Mord im Orientexpress
Bouc, der sich für diese Herausforderung an seinen Grips zusehends erwärmte. «Zuerst das Taschentuch. Wir wollen ja unter allen Umständen methodisch vorgehen.»
«Gewiss», versicherte Poirot mit zufriedenem Kopfnicken.
«Der Anfangsbuchstabe H», fuhr Monsieur Bouc in lehrerhaftem Ton fort, «kommt bei drei Personen vor – Mrs. Hubbard, Miss Debenham, deren zweiter Vorname Hermione ist, und bei Hildegard Schmidt, der Zofe.»
«Aha. Und welche von den dreien darf es sein?»
«Das ist schwer zu sagen. Aber ich glaube, ich stimme für Miss Debenham. Wer weiß, vielleicht wird sie ja mit ihrem zweiten Vornamen gerufen statt mit dem ersten. Außerdem gibt es bereits Verdachtsmomente gegen sie. Dieses Gespräch, das Sie mitgehört haben, mon cher, war ja wirklich etwas eigenartig, und Gleiches gilt für ihre Weigerung, uns eine Erklärung dafür zu geben.»
«Ich hingegen bin mehr für die Amerikanerin», sagte Dr. Constantine. «Es ist ein sehr teures Taschentuch, und wie alle Welt weiß, ist es den Amerikanern völlig egal, wie viel sie bezahlen.»
«Die Zofe schließen Sie also beide aus?»
«Ja. Nach ihren eigenen Worten gehört dieses Taschentuch einer Dame aus der besseren Gesellschaft.»
«Nun die zweite Frage – der Pfeifenreiniger. Hat Colonel Arbuthnot ihn verloren oder jemand anders?»
«Das ist schon schwieriger. Die Engländer sind keine Messerstecher, da haben Sie Recht. Ich neige zu der Ansicht, dass jemand anders den Pfeifenreiniger dort fallen gelassen hat – und zwar mit der Absicht, den britischen Langweiler zu belasten.»
«Wie Sie schon sagten, Monsieur Poirot», warf der Doktor ein, «zwei Hinweise auf einmal wären zu viel des Leichtsinns. Ich stimme Monsieur Bouc zu. Das Taschentuch war ein echtes Versehen – darum wird sich niemand zu seiner Eigentümerschaft bekennen. Der Pfeifenreiniger hingegen ist eine absichtlich gelegte falsche Spur. Für diese Theorie spricht, dass Colonel Arbuthnot keinerlei Befangenheit an den Tag legt und freimütig zugibt, dass er Pfeife raucht und solche Pfeifenreiniger benutzt.»
«Gut kombiniert», lobte Poirot.
«Frage Nummer drei – wer trug den roten Kimono?», fuhr Monsieur Bouc fort. «Dazu muss ich bekennen, dass ich nicht die mindeste Ahnung habe. Können Sie zu diesem Thema etwas sagen, Dr. Constantine?»
«Nein, nichts.»
«Dann müssen wir uns in diesem Punkt geschlagen geben. Bei der nächsten Frage tun sich immerhin einige Möglichkeiten auf. Wer war der als Schlafwagenschaffner verkleidete Mann oder die Frau? Hier lassen sich einige Leute aufzählen, die es mit Bestimmtheit nicht gewesen sein können. Hardman, Colonel Arbuthnot, Foscarelli, Graf Andrenyi und Hector MacQueen sind alle zu groß. Mrs. Hubbard, Hildegard Schmidt und Greta Ohlsson sind zu breit. Bleiben der Diener, Miss Debenham, Fürstin Dragomiroff und Gräfin Andrenyi – und von ihnen kann es eigentlich niemand gewesen sein. Greta Ohlsson schwört, dass Miss Debenham nie ihr Abteil verlassen hat, Antonio Foscarelli beteuert dasselbe bei dem Diener; Hildegard Schmidt schwört, dass die Fürstin in ihrem Abteil war, und Graf Andrenyi hat uns versichert, dass seine Frau einen Schlaftrunk genommen hatte. Es erscheint mithin unmöglich, dass es übe r haupt jemand war – und das ist einfach widersinnig!»
«Wie unser alter Freund Euklid schon sagte», murmelte Poirot.
«Es muss jemand von diesen vieren gewesen sein», sagte Dr. Constantine. «Es sei denn, es wäre doch jemand von draußen hereingekommen und hätte irgendwo ein Versteck gefunden – und das ist, wie wir uns schon geeinigt haben, unmöglich.»
Monsieur Bouc ging zur nächsten Frage auf der Liste über.
«Nummer fünf – warum stehen die Zeiger der kaputten Uhr auf ein Uhr fünfzehn? Ich sehe zwei mögliche Erklärungen. Entweder hat der Mörder sie so gestellt, um sich ein Alibi zu schaffen, konnte dann aber das Abteil nicht verlassen, als er es wollte, weil er draußen Leute hörte, oder – halt – mir kommt gerade ein Gedanke –»
Die beiden anderen warteten respektvoll, während Monsieur Bouc sich in geistigen Wehen wand.
«Ich hab’s», sagte er endlich. «Es war gar nicht der Schlafwagenmörder, der die Uhr verstellt hat! Es war die Person, die wir bisher ‹Zweiter Mörder› genannt haben – die linkshändige – mit anderen Worten, die Frau im scharlachroten Kimono. Sie kommt später und stellt die Uhr zurück, um sich ein Alibi zu schaffen.»
«Bravo!», rief Dr. Constantine. «Das
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