Mord im Orientexpress
einander an.
«Was nun?», fragte Monsieur Bouc.
«Wir gehen wieder in den Speisewagen», sagte Poirot. «Wir wissen alles, was es zu wissen gibt. Wir haben die Zeugnisse der Fahrgäste, ihres Gepäcks und unseres eigenen Augenscheins. Weitere Hilfe können wir nicht erwarten. Jetzt müssen wir nur noch unser Gehirn benutzen.»
Er griff in die Tasche nach seinem Zigarettenetui. Es war leer.
«Ich komme gleich nach», sagte er. «Meine Zigaretten werde ich brauchen. Das ist eine sehr verwickelte, sehr merkwürdige Geschichte. Wer trug diesen roten Kimono? Wo ist er jetzt? Wenn ich es nur wüsste! Irgendetwas an diesem Fall bekomme ich nicht zu fassen. Er ist deshalb so kompliziert, weil er kompliziert gemacht wurde. Aber wir reden darüber noch. Entschuldigen Sie mich einen Moment.»
Er eilte den Gang entlang zu seinem Abteil, denn in einem seiner Koffer hatte er, wie er wusste, noch einen Vorrat an Zigaretten.
Er nahm den Koffer herunter und öffnete ihn.
Dann setzte er sich in die Hocke und machte große Augen.
Obenauf lag säuberlich zusammengefaltet, ein mit Drachen bestickter roter Kimono aus dünner Seide.
«Ach», sagte er, «so ist das. Ein Fehdehandschuh. Bitte sehr, ich nehme ihn auf.»
Teil 3
Hercule Poirot lehnt sich zurück und denkt
Erstes Kapitel
Wer war’s?
M onsieur Bouc und Dr. Constantine unterhielten sich, als Poirot in den Speisewagen zurückkam. Monsieur Bouc wirkte niedergeschlagen.
«Le voilà», sagte er, als er Poirot sah.
Und als sein Freund sich hinsetzte, sprach er weiter:
«Wenn Sie diesen Fall lösen, mon cher, werde ich jedenfalls an Wunder glauben.»
«Bereitet er Ihnen Kopfzerbrechen, der Fall?»
«Natürlich bereitet er mir Kopfzerbrechen. Ich kann weder Hand noch Fuß daran erkennen.»
«So geht es mir auch», meinte der Arzt.
Er sah Poirot interessiert an.
«Um ehrlich zu sein», sagte er, «weiß ich jetzt nicht, wie Sie weiter vorgehen wollen.»
«Nein?», meinte Poirot gedehnt.
Er nahm das Etui aus der Tasche und zündete sich eine seiner kleinen Zigaretten an. Sein Blick war verträumt.
«Das ist ja für mich das Interessante an dem Fall», sagte er. «Alle normalen Vorgehensweisen sind uns verwehrt. Haben diese Leute, deren Aussagen wir gehört haben, die Wahrheit gesagt, oder haben sie uns belogen? Wir haben kein Mittel, es nachzuprüfen – es sei denn, wir denken uns solche Mittel selbst aus. Es ist eine Übung fürs Gehirn.»
«Schön und gut», sagte Monsieur Bouc. «Aber woran wollen Sie sich halten?»
«Das habe ich Ihnen eben gesagt. Wir haben die Aussagen der Reisenden, und wir haben unseren Augenschein.»
«Schöne Aussagen sind das, was uns die Reisenden da erzählt haben! Sie haben uns keinen Schritt weitergebracht.»
Poirot schüttelte den Kopf.
«Dieser Meinung bin ich nicht, mein Freund. Die Aussagen der Fahrgäste haben uns einiges von Interesse geliefert.»
«Ach ja?», meinte Monsieur Bouc skeptisch. «Davon habe ich nichts gemerkt.»
«Nur weil Sie nicht richtig zugehört haben.»
«Bitte – dann sagen Sie mir, was ich überhört habe.»
«Ich nenne nur ein Beispiel – die erste Aussage, die wir gehört haben – die des jungen MacQueen. Für meine Begriffe hat er etwas sehr Bezeichnendes gesagt.»
«Das mit den Briefen?»
«Nein, nicht das mit den Briefen. Wenn ich mich recht erinnere, lauteten seine Worte: ‹Wir sind umhergereist. Mr. Ratchett wollte die Welt sehen. Dabei war ihm hinderlich, dass er keine Fremdsprachen beherrschte. Ich war für ihn mehr Reisemarschall als Sekretär›.»
Er sah von dem Arzt zu Monsieur Bouc.
«Sie merken noch nichts? Nein? Das ist unentschuldbar, denn vorhin hat er Ihnen sogar noch eine zweite Chance gegeben, als er sagte: ‹Man ist einfach aufgeschmissen, wenn man nichts anderes als sein liebes Amerikanisch spricht.›»
«Sie meinen –» Monsieur Boucs Miene war immer noch ratlos.
«Ja, ich sehe schon, Sie möchten es in ganz einfachen Worten hören. Bitte sehr. Mr. Ratchett sprach kein Französisch. Als aber letzte Nacht der Schaffner zu ihm eilte, weil nach ihm geklingelt worden war, sagte jemand auf Französisch zu ihm, es sei ein Versehen gewesen, er werde nicht benötigt. Im Übrigen wurde da eine ausgesprochen umgangssprachliche Redewendung benutzt, die jemand, der nur ein paar Brocken Französisch spricht, nie benutzen würde: ‹ Ce n ’ est rien. Je me suis trompé. › »
«Stimmt!», rief Dr. Constantine aufgeregt. «Das hätte uns
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