Mord im Orientexpress
sagte die Gräfin.
«Trotz des H darauf?»
«Trotz des H. Ich besitze ähnliche Taschentücher, aber keines von genau der gleichen Art. Natürlich kann ich gar nicht erst hoffen, dass Sie mir glauben, aber ich versichere es Ihnen hoch und heilig: Dieses Taschentuch gehört mir nicht.»
«Könnte jemand es dort hinterlassen haben, um Sie in Verdacht zu bringen?»
Sie lächelte matt.
«Sie wollen mich zu dem Eingeständnis verlocken, es wäre doch meines? Nein, Monsieur Poirot, es gehört wirklich nicht mir.»
«Aber wenn es nicht Ihr Taschentuch ist, warum haben Sie dann Ihren Namen im Pass geändert?»
Der Graf antwortete an ihrer Stelle.
«Weil wir erfahren hatten, dass ein mit einem H besticktes Taschentuch gefunden worden war. Wir haben darüber gesprochen, bevor wir vernommen wurden. Ich habe Helena darauf hingewiesen, dass man sie sehr viel schärfer ins Verhör nehmen werde, wenn man sähe, dass ihr Vorname mit einem H beginnt. Und es war ja so einfach – aus Helena Elena zu machen war ein Kinderspiel.»
«Sie hätten das Zeug zu einem recht ordentlichen Kriminellen, Monsieur le Comte», bemerkte Poirot trocken. «Sie besitzen einen großen angeborenen Einfallsreichtum und haben offenbar keinerlei Hemmungen, Justitia an der Nase herumzuführen.»
«Nein, nein, nein!» Die Gräfin beugte sich über den Tisch. «Er hat Ihnen doch erklärt, wie es war, Monsieur Poirot.» Sie verfiel jetzt vom Französischen ins Englische. «Ich hatte Angst, Todesängste, verstehen Sie? Es war so eine entsetzliche Zeit gewesen – damals – und das nun alles wieder aufrühren zu lassen! Verdächtigt zu werden, vielleicht ins Gefängnis geworfen! Ich war halb wahnsinnig vor Angst, Monsieur Poirot. Können Sie das denn gar nicht verstehen?»
Ihre Stimme war so schön – so tief und voll, so flehend – da sprach wahrhaft die Tochter der großen Schauspielerin Linda Arden.
Poirot sah sie ernst an.
«Wenn ich Ihnen glauben soll, Madame – und ich sage nicht, dass ich Ihnen nicht glauben will –, dann müssen Sie mir helfen.»
«Ihnen helfen?»
«Ja. Der Grund für diesen Mord liegt in der Vergangenheit – jener Tragödie, die Ihre Familie vernichtet und Ihre Jugend überschattet hat. Führen Sie mich bitte zurück in diese Vergangenheit, Madame, damit ich vielleicht das Bindeglied entdecke, das die ganze Sache erklärt.»
«Was kann ich Ihnen denn da noch sagen? Sie sind alle tot. Alle tot», wiederholte sie voll Trauer. «Alle tot – Robert, Sonia, die liebe, liebe kleine Daisy. Sie war so süß – so fröhlich – sie hatte so bezaubernde Löckchen. Wir waren alle ganz vernarrt in sie.»
«Es gab noch ein Opfer, Madame. Ein indirektes sozusagen.»
«Die arme Susanne? Ach ja, die hatte ich ganz vergessen. Die Polizei hat sie verhört. Man war überzeugt, Susanne hätte etwas damit zu tun gehabt. Vielleicht hatte sie das sogar – allerdings nichts ahnend. Soviel ich weiß, hatte sie mit irgendjemandem geplaudert und dabei die Zeiten genannt, zu denen Daisy immer ausgeführt wurde. Die Ärmste war völlig verzweifelt – sie dachte, man wolle ihr die Sache zur Last legen.» Die Gräfin schauderte. «Sie hat sich aus dem Fenster gestürzt. Oh, war das schrecklich!»
Sie schlug die Hände vors Gesicht.
«Was war sie für eine Landsmännin, Madame?»
«Französin.»
«Wie hieß sie mit Nachnamen?»
«Es ist komisch, aber ich kann mich nicht erinnern – wir nannten sie alle nur Susanne. Ein hübsches Mädchen, und immer fröhlich. Sie hat Daisy vergöttert.»
«Sie war das Kindermädchen, nicht wahr?»
«Ja.»
«Und wer war die Kinderschwester?»
«Eine ausgebildete Pflegerin. Stengelberg hieß sie. Auch sie hat Daisy vergöttert – und meine Schwester.»
«Und nun bitte ich Sie, Madame, sehr genau nachzudenken, bevor Sie meine nächste Frage beantworten. Haben Sie, seit Sie in diesem Zug sind, jemanden gesehen, den Sie wieder erkannten?»
Sie sah ihn mit großen Augen an.
«Ich? Nein, niemanden.»
«Auch nicht die Fürstin Dragomiroff?»
«Ach so, die? Ja, natürlich kenne ich sie. Ich dachte, Sie meinten jemanden – aus der damaligen Zeit.»
«Das meinte ich auch. Denken Sie jetzt sehr genau nach. Es sind, wohlgemerkt, etliche Jahre vergangen. Die Person könnte ihr Aussehen verändert haben.»
Helena dachte angestrengt nach. Dann sagte sie:
«Nein – ich bin ganz sicher – da ist niemand.»
«Sie selbst – Sie waren damals ein junges Mädchen – hatten Sie niemanden, der Sie bei den
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