Mord im Orientexpress
Hausaufgaben beaufsichtigte und sich um Sie kümmerte?»
«O doch, das war ein Drache – meine Gouvernante, zugleich Sonias Sekretärin. Eine Engländerin, oder eigentlich Schottin – groß und rothaarig.»
«Wie hieß sie?»
«Miss Freebody.»
«Jung oder alt?»
«Mir kam sie furchtbar alt vor. Dabei glaube ich nicht, dass sie älter als vierzig war. Ansonsten war für mich natürlich Susanne zuständig.»
«Und es lebte sonst niemand mehr im Haus?»
«Nur Dienstboten.»
«Und Sie sind sicher – ganz sicher, Madame –, dass Sie in diesem Zug niemanden wieder erkannt haben?»
Sie antwortete ernst:
«Niemanden, Monsieur, wirklich niemanden.»
Fünftes Kapitel
Der Vorname der Fürstin Dragomiroff
N achdem der Graf und die Gräfin gegangen waren, blickte Poirot zu den beiden anderen hinüber.
«Sie sehen», sagte er, «wir kommen voran.»
«Ausgezeichnete Arbeit», ließ Monsieur Bouc sich herab. «Ich für meinen Teil wäre nie auf die Idee gekommen, Graf und Gräfin Andrenyi zu verdächtigen. Ich hatte sie, wie ich zugeben muss, für gänzlich hors de combat gehalten. Es besteht doch wohl kein Zweifel, dass sie die Tat begangen hat? Eigentlich traurig. Aber man wird sie wohl nicht gleich enthaupten. Es liegen ja mildernde Umstände vor. Ein paar Jahre Gefängnis – das dürfte alles sein.»
«Demnach sind Sie von ihrer Schuld schon restlos überzeugt?»
«Mein lieber Freund, daran besteht doch wohl kein Zweifel? Ich dachte, Sie wollten mit Ihrer beschwichtigenden Art nur die Wogen glätten, bis wir hier ausgegraben werden und die Polizei die Sache in die Hand nimmt.»
«Sie glauben der Beteuerung des Grafen nicht – seinem Ehrenwort –, dass seine Frau unschuldig ist?»
«Mon cher – was hätte er denn anderes sagen können? Er betet seine Frau an. Er will sie retten! Er lügt sehr überzeugend, ganz im Ton des Grandseigneurs, aber was kann es denn anderes sein als eine Lüge?»
«Ach, wissen Sie, mir ist schon der aberwitzige Gedanke gekommen, es könnte die Wahrheit sein.»
«Aber, aber! Denken Sie nur an das Taschentuch. Das Taschentuch löst das Rätsel.»
«Na, ich bin mir mit dem Taschentuch nicht ganz so sicher. Erinnern Sie sich, ich habe von Anfang an gesagt, dass es zwei Möglichkeiten gibt, wem es gehören könnte.»
«Trotzdem –»
Monsieur Bouc unterbrach sich. Die Tür am Ende des Speisewagens war aufgegangen, und die Fürstin Dragomiroff trat ein. Sie kam geradewegs auf sie zu, und alle drei Männer erhoben sich.
Sie sprach zu Poirot, ohne die beiden anderen zu beachten.
«Ich glaube, Monsieur», sagte sie, «Sie haben ein Taschentuch von mir.»
Poirot warf seinen Freunden einen triumphierenden Blick zu.
«Ist es dieses, Madame?»
Er holte das feine Batisttüchlein hervor.
«Ja, das ist es. In der einen Ecke ist mein Monogramm darauf.»
«Aber, Madame la Princesse, dort steht ein H», sagte Monsieur Bouc. «Ihr Vorname – verzeihen Sie mir – ist jedoch Natalia.»
Sie bedachte ihn mit einem kalten Blick.
«Richtig, Monsieur. Meine Taschentücher werden immer mit russischen Buchstaben bestickt. Das N im russischen Alphabet sieht wie ein H aus.»
Monsieur Bouc war fassungslos. Die alte Dame hatte etwas Unbezwingbares an sich, das ihn verlegen und unsicher machte.
«Heute Morgen, bei Ihrer Vernehmung, haben Sie uns nicht gesagt, dass es Ihr Taschentuch ist.»
«Sie haben mich nicht gefragt», antwortete die Fürstin trocken.
«Bitte, nehmen Sie doch Platz, Madame», sagte Poirot.
Sie seufzte. «Das sollte ich wohl.» Sie setzte sich.
«Sie brauchen hier keine langen Geschichten zu machen, Messieurs. Ihre nächste Frage wird sein: Wie kommt mein Taschentuch neben einen Ermordeten zu liegen? Und ich antworte darauf, dass ich keine Ahnung habe.»
«Sie haben wirklich keine Ahnung?»
«Nicht die mindeste.»
«Sie werden verzeihen, Madame, aber wie sehr können wir uns auf die Wahrhaftigkeit Ihrer Antworten verlassen?»
Poirot hatte sehr sanft gesprochen. Fürstin Dragomiroff antwortete verächtlich:
«Ich nehme an, Sie fragen das, weil ich Ihnen nicht gesagt habe, dass Helena Andrenyi die Schwester von Mrs. Armstrong ist?»
«Sie haben uns diesbezüglich sogar bewusst angelogen.»
«Natürlich. Das würde ich auch wieder tun. Ihre Mutter war meine Freundin. Ich glaube an Loyalität, Messieurs – gegenüber seinen Freunden, seiner Familie, seiner Klasse.»
«Und Sie glauben nicht daran, dass man sein Äußerstes tun sollte, um der Gerechtigkeit zum
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