Mord im Orientexpress
Sieg zu verhelfen?»
«Im vorliegenden Fall bin ich der Meinung, dass Gerechtigkeit – wahre Gerechtigkeit – bereits geschehen ist.»
Poirot beugte sich zu ihr vor.
«Sie sehen, in welcher Zwickmühle ich bin, Madame. Schon in der Frage des Taschentuchs – soll ich Ihnen glauben? Oder stellen Sie sich nur wieder schützend vor die Tochter Ihrer Freundin?»
«Ach so, ich verstehe, was Sie meinen.» Ein grimmiges Lächeln erschien auf ihrem Gesicht. «Also, Messieurs, das mit dem Taschentuch ist leicht nachzuprüfen. Ich gebe Ihnen die Adresse in Paris, wo ich meine Taschentücher machen lasse. Sie brauchen den Leuten nur dieses Tuch zu zeigen, und man wird Ihnen sagen, dass es vor über einem Jahr auf meine Bestellung hin angefertigt wurde. Es ist wirklich mein Taschentuch, Messieurs.»
Sie erhob sich.
«Haben Sie noch weitere Fragen an mich?»
«Ihre Zofe, Madame, hat sie das Taschentuch erkannt, als wir es ihr heute Vormittag zeigten?»
«Das muss sie wohl. Sie hat es gesehen und nichts gesagt? Gut! Das zeigt, dass auch sie loyal sein kann.»
Und mit einem angedeuteten Kopfnicken verließ sie den Speisewagen.
«Das war es also», murmelte Poirot vor sich hin. «Ich habe bei der Zofe nur die Spur eines Zögerns bemerkt, als ich sie fragte, ob sie wisse, wessen Taschentuch das sei. Sie wusste nicht recht, ob sie zugeben sollte, dass es ihrer Herrin gehört. Aber wie passt das nun in meine absonderliche Theorie? Doch, es könnte durchaus sein.»
«Puh!», rief Monsieur Bouc mit einer viel sagenden Gebärde. «Ist das ein alter Drache!»
«Könnte sie Ratchett ermordet haben?», wandte Poirot sich an Dr. Constantine.
Der schüttelte den Kopf.
«Diese Stiche – ich spreche von denen, die das Muskelgewebe mit großer Kraft durchdrungen haben – können nie und nimmer von einer so gebrechlichen Person stammen.»
«Die schwächeren aber doch?»
«Die schwächeren ja.»
«Ich denke an heute Vormittag», sagte Poirot, «als ich zu ihr sagte, ihre Kraft liege mehr in ihrem Willen als in ihrem Arm. Damit wollte ich sie in eine Falle locken. Ich wollte sehen, ob sie auf ihren rechten oder ihren linken Arm blickt. Sie hat auf beide geblickt. Aber ihre Antwort hat mir zu denken gegeben. Sie sagte: ‹Nein, darin habe ich keine Kraft. Ich weiß nicht, ob ich darüber froh oder traurig bin.› Ein sonderbarer Satz. Er bestärkt mich in meiner Meinung über das Verbrechen.»
«Er klärt aber nicht die Frage nach der Linkshändigkeit.»
«Das nicht. Ist Ihnen übrigens aufgefallen, dass Graf Andrenyi sein Brusttüchlein rechts trägt?»
Monsieur Bouc schüttelte den Kopf. Er war mit den Gedanken bei den erstaunlichen Enthüllungen der letzten halben Stunde.
«Lügen», sagte er leise, «Lügen über Lügen. Ich kann es nicht fassen, wie viele Lügen uns heute Vormittag aufgetischt wurden.»
«Es werden wohl noch einige mehr aufgedeckt werden», meinte Poirot vergnügt.
«Glauben Sie?»
«Wenn nicht, wäre ich sehr enttäuscht.»
«Ich finde solche Verlogenheit fürchterlich», erklärte Monsieur Bouc. «Aber», fügte er vorwurfsvoll hinzu, «Sie scheinen Ihren Spaß daran zu haben.»
«Sie hat einen Vorteil», erklärte Poirot. «Wenn man nämlich einem, der gelogen hat, die Wahrheit auf den Kopf zusagt, gibt er sie meist zu – oft genug aus schierer Verblüffung. Um diese Wirkung zu erzielen, muss man nur richtig raten.
Nur so kommt man in diesem Fall überhaupt voran. Ich sehe mir die Reisenden einzeln an, lasse mir ihre Aussagen durch den Kopf gehen und frage mich: ‹ Wenn dieser oder jener lügt, in welchem Punkt lügt er, und aus welchem Grund?› Und dann antworte ich mir: ‹ Wenn sie oder er lügt – wohlgemerkt, wenn –, dann kann es nur in diesem Punkt und aus jenem Grund sein.› Wir haben das schon einmal sehr erfolgreich bei der Gräfin Andrenyi so gemacht. Nun werden wir dieselbe Methode noch an einigen anderen Personen ausprobieren.»
«Aber was ist, mein Freund, wenn Sie dummerweise falsch raten?»
«Dann ist zumindest eine Person frei von jedem Verdacht.»
«Ah, die Ausschlussmethode!»
«Stimmt genau.»
«Und an wem probieren wir sie als nächstes aus?»
«Wir sollten uns noch einmal den pukka sahib vornehmen, Colonel Arbuthnot.»
Sechstes Kapitel
Colonel Arbuthnot zum Zweiten
C olonel Arbuthnot war sichtlich verstimmt, dass man ihn zu einem zweiten Gespräch in den Speisewagen bestellte. Mit überaus abweisender Miene nahm er Platz und sagte:
«Nun?»
«Ich
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