Mord im Orientexpress
auch die Polizeigerichte. Ich aber kenne die menschliche Natur, mein Freund, und ich sage Ihnen, dass auch der Unschuldigste, der sich plötzlich in Gefahr sieht, wegen Mordes vor Gericht gestellt zu werden, den Kopf verliert und die aberwitzigsten Dinge tut. Nein, o nein, der Fettfleck und der Aufkleber sind keine Schuldbeweise – sie beweisen nur, dass die Gräfin Andrenyi aus irgendeinem Grund darauf bedacht ist, ihre Identität zu verbergen.»
«Was glauben Sie denn, welcher Art ihre Beziehung zur Familie Armstrong sein könnte? Sie sagt, dass sie nie in Amerika war.»
«Genau, und sie spricht gebrochenes Englisch und hat ein übertrieben fremdländisches Aussehen, das sie pflegt. Aber es dürfte unschwer zu erraten sein, wer sie ist. Ich habe vorhin den Namen von Mrs. Armstrongs Mutter erwähnt. Sie hieß Linda Arden und war eine gefeierte Schauspielerin – Shakespeare-Interpretin unter anderem. Denken Sie an Wie es euch gefällt – den Ardenner Wald und Rosalinde. Dort hat sie die Anregung für ihren Künstlernamen bekommen. Linda Arden, der Name, unter dem man sie auf der ganzen Welt kannte, war nicht ihr richtiger Name. Der könnte Goldenberg gewesen sein – sie hatte sehr wahrscheinlich osteuropäisches Blut in den Adern – eine Spur jüdisches vielleicht. Viele Nationalitäten zieht es nach Amerika. Ich sage Ihnen, meine Herren, dass diese jüngere Schwester von Mrs. Armstrong, ein Kind noch zur Zeit der Tragödie, Helena Goldenberg war, die jüngere Tochter von Linda Arden, und sie hat den Grafen Andrenyi geheiratet, als er Attache in Washington war.»
«Aber die Fürstin Dragomiroff sagt doch, sie hätte einen Engländer geheiratet.»
«An dessen Namen sie sich nicht erinnert! Ich frage Sie, meine Freunde – ist das glaubhaft? Die Fürstin Dragomiroff hat Linda Arden geliebt, wie große Damen nun einmal große Künstlerinnen lieben. Sie war die Patin einer ihrer Töchter. Würde sie so schnell den Ehenamen der anderen Tochter vergessen? Das ist nicht anzunehmen. Nein, ich glaube, wir können getrost unterstellen, dass die Fürstin Dragomiroff uns angelogen hat. Sie weiß, dass Helena im Zug ist, sie hat sie gesehen. Als sie erfährt, wer Ratchett wirklich war, begreift sie sofort, dass der Verdacht auf Helena fallen wird. Und als wir sie nach der Schwester fragen, lügt sie prompt – weicht aus, kann sich nicht erinnern, glaubt aber, dass Helena ‹einen Engländer geheiratet hat› – eine Behauptung, die möglichst weit von der Wahrheit entfernt ist.»
Einer der Speisewagenkellner kam zur Tür herein und näherte sich ihrem Tisch. Er wandte sich an Monsieur Bouc.
«Das Abendessen, Monsieur – soll ich servieren? Es ist schon seit einiger Zeit fertig.»
Monsieur Bouc sah Poirot an. Der nickte.
«Auf jeden Fall, lassen Sie das Abendessen servieren.»
Der Kellner verschwand wieder durch die Tür. Man hörte seine Glocke läuten und seine laute Stimme rufen:
«Premier Service. Le dîner est servi. Premier service. Le dîner … »
Viertes Kapitel
Der Fettfleck auf einem ungarischen Pass
P oirot nahm mit Monsieur Bouc und dem Arzt am selben Tisch Platz.
Es war eine sehr gedämpfte Gesellschaft, die sich da im Speisewagen einfand. Man unterhielt sich kaum. Sogar die redselige Mrs. Hubbard war unnatürlich still. Beim Hinsetzen sagte sie leise: «Ich weiß ja nicht, ob ich überhaupt etwas hinunter bekomme –», um dann, ermuntert von der Schwedin, die sie als ihre Schutzbefohlene betrachtete, von allem zu nehmen, was gereicht wurde.
Bevor das Essen aufgetragen wurde, hatte Poirot den Oberkellner am Ärmel gezupft und ihm etwas zugeraunt. Dr. Constantine konnte sich wohl denken, welcher Art seine Anweisungen gewesen waren, denn er beobachtete, wie Graf und Gräfin Andrenyi bei allen Gängen als Letzte bedient wurden, und nach dem Mahl ließ auch noch die Rechnung auf sich warten. So kam es, dass der Graf und die Gräfin als Letzte noch im Speisewagen saßen.
Als sie endlich aufstanden und zur Tür gehen wollten, sprang Poirot auf und eilte ihnen nach.
«Pardon, Madame, Sie haben Ihr Taschentuch verloren.»
Damit hielt er ihr das bestickte Batisttüchlein hin.
Sie nahm es, warf einen Blick darauf und reichte es ihm zurück.
«Sie irren, Monsieur, das ist nicht mein Taschentuch.»
«Nicht Ihres? Sind Sie ganz sicher?»
«Vollkommen sicher, Monsieur.»
«Obwohl Ihr Monogramm darauf ist – ein H?»
Der Graf machte eine abrupte Bewegung, die Poirot geflissentlich übersah. Er
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