Mord im Orientexpress
blickte unverwandt der Gräfin ins Gesicht.
Sie sah ihm fest in die Augen und erwiderte:
«Ich verstehe Sie nicht, Monsieur. Meine Initialen sind E. A.»
«Das glaube ich Ihnen nicht. Ihr Name ist Helena, nicht Elena. Helena Goldenberg, Linda Ardens jüngere Tochter – Helena Goldenberg, Mrs. Armstrongs Schwester.»
Die Totenstille, die daraufhin eintrat, dauerte eine Weile an. Der Graf und die Gräfin waren leichenblass geworden. Poirot sagte in freundlicherem Ton:
«Leugnen hat keinen Sinn. Es ist doch die Wahrheit, oder?»
«Monsieur!», fuhr der Graf ihn wütend an. «Ich verlange auf der Stelle zu erfahren, mit welchem Recht Sie –»
Seine Frau unterbrach ihn, indem sie ihm ihre kleine Hand vor den Mund hielt.
«Nicht, Rudolph. Lass mich reden. Es ist sinnlos, abzustreiten, was dieser Herr gesagt hat. Wir sollten uns lieber hinsetzen und über die Sache reden.»
Ihr Ton hatte sich verändert. Er hatte nach wie vor die südländische Klangfülle, war aber zugleich auch heller und schneidender geworden. Zum ersten Mal war es ein unverkennbar amerikanischer Tonfall.
Der Graf war verstummt. Er gehorchte dem Befehl ihrer Hand, und beide setzten sich Poirot gegenüber.
«Es ist wahr, was Sie gesagt haben, Monsieur», sagte die Gräfin. «Ich bin Helena Goldenberg, Mrs. Armstrongs jüngere Schwester.»
«Heute Vormittag haben Sie mir das nicht anvertraut, Madame la Comtesse.»
«Nein.»
«Überhaupt haben Sie und Ihr Gatte mir da ein ganzes Lügengespinst aufgetischt.»
«Monsieur», fuhr der Graf wütend auf.
«Du brauchst nicht zornig zu werden, Rudolph. Monsieur Poirot hat es etwas derb ausgedrückt, aber was er sagt, ist nicht zu bestreiten.»
«Es freut mich, dass Sie sich so freimütig dazu bekennen, Madame. Würden Sie mir jetzt auch noch sagen, warum Sie gelogen und warum Sie Ihren Vornamen auf dem Pass geändert haben?»
«Das war ausschließlich mein Tun», sprach der Graf dazwischen.
Helena sagte ruhig: «Sie können sich meine Gründe – unsere Gründe – sicherlich denken, Monsieur Poirot. Der Getötete ist der Mann, der meine kleine Nichte ermordet, meine Schwester umgebracht und meinem Schwager das Herz gebrochen hat. Drei der Menschen, die ich am meisten liebte, die mein Zuhause waren, meine Welt.»
Ihre Stimme war voll Leidenschaft. Sie war eine wahre Tochter jener Mutter, die mit ihrer Schauspielkunst so manches große Publikum zu Tränen gerührt hatte.
«Von allen Leuten in diesem Zug», fuhr sie jetzt ruhiger fort, «hatte wahrscheinlich ich das stärkste Motiv, ihn zu töten.»
«Aber Sie haben ihn nicht getötet, Madame?»
«Ich schwöre Ihnen, Monsieur Poirot – und mein Mann weiß es und wird es auch beschwören –, dass ich keine Hand gegen diesen Menschen gerührt habe, wäre mir auch noch so sehr danach gewesen.»
«Und ich, meine Herren», sagte der Graf, «gebe Ihnen mein Ehrenwort, dass Helena in der letzten Nacht zu keinem Zeitpunkt ihr Abteil verlassen hat. Sie hat einen Schlaftrunk genommen, genau wie ich Ihnen schon sagte. Sie ist vollkommen unschuldig.»
Poirot sah beide abwechselnd an.
«Mein Ehrenwort», wiederholte der Graf.
Poirot schüttelte langsam den Kopf.
«Und trotzdem sahen Sie sich veranlasst, den Namen im Pass zu ändern?»
«Monsieur Poirot», sagte der Graf mit ernstem Nachdruck, «bedenken Sie meine Lage. Glauben Sie, ich hätte die bloße Vorstellung ertragen, meine Frau in so einen widerlichen Kriminalfall hineingezerrt zu sehen? Ich wusste, dass sie unschuldig war, aber es stimmt einfach, was sie sagt – auf Grund ihrer Verbindung mit der Familie Armstrong wäre sie sofort in Verdacht geraten. Man hätte sie verhört, vielleicht verhaftet. Da ein böser Zufall uns mit diesem Ratchett in denselben Zug gesetzt hat, gab es nach meiner Überzeugung nur eines zu tun. Ich gebe zu, Monsieur, dass ich Sie belogen habe – außer in einem Punkt. Meine Frau hat in der letzten Nacht nie ihr Abteil verlassen.»
Er sagte es mit solchem Ernst, dass man schwerlich widersprechen konnte.
«Es ist nicht so, dass ich Ihnen nicht glaube, Monsieur», sagte Poirot langsam. «Sie entstammen, wie ich weiß, einem alten und stolzen Geschlecht. Es wäre wirklich bitter für Sie, Ihre Frau in so einen unerquicklichen Fall gezerrt zu sehen. Das kann ich Ihnen nachfühlen. Aber wie erklären Sie mir dann, dass wir das Taschentuch Ihrer Frau Gemahlin ausgerechnet im Abteil des Toten gefunden haben?»
«Dieses Taschentuch gehört mir nicht, Monsieur»,
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