Mord im Orientexpress
italienischen Polizei so ziemlich dasselbe gesagt wie uns. Mr. MacQueen hätte die Drohbriefe vorgelegt, Mr. Hardman seine Geschichte erzählt, Mrs. Hubbard hätte nur zu gern berichtet, wie ein Mann durch ihr Abteil gegangen sei, und man hätte den Knopf gefunden. Nur zwei Dinge stelle ich mir anders vor: Der Mann wäre schon kurz vor ein Uhr durch Mrs. Hubbards Abteil gegangen, und die Schaffneruniform hätte man in einer der Toiletten gefunden.»
«Sie meinen?»
«Ich meine, dass der Mord so aussehen sollte, als hätte ihn jemand von außerhalb begangen. Man sollte glauben, der Mörder habe den Zug in Brod verlassen, wo er um 0.58 Uhr ankommen sollte. Wahrscheinlich wäre jemand auf dem Gang einem fremden Schlafwagenschaffner begegnet. Die Uniform wäre an einer auffälligen Stelle deponiert worden, damit man deutlich hätte sehen können, wie das Ganze sich abgespielt habe. Auf die Fahrgäste wäre keinerlei Verdacht gefallen. So und nicht anders, meine Freunde, hatte das Geschehen sich für die Außenwelt darstellen sollen.
Aber nun ist der Zug stecken geblieben, und das ändert alles. Zweifellos ist das der Grund, warum der Mann sich so lange im Abteil des Opfers aufhielt – er hat auf die Weiterfahrt des Zuges gewartet. Aber zu guter Letzt hat er begriffen, dass der Zug nicht weiterfahren würde. Also musste schnell ein neuer Plan gefasst werden. Man würde ja jetzt wissen, dass der Mörder noch im Zug war.»
«Ja, ja», rief Monsieur Bouc ungeduldig dazwischen. «Das verstehe ich alles. Aber was hat das Taschentuch damit zu tun?»
«Ich werde auf einem kleinen Umweg darauf zurückkommen. Zunächst sollte Ihnen klar sein, dass diese Drohbriefe reines Blendwerk sind. Sie könnten wörtlich aus einem mittelmäßigen amerikanischen Kriminalroman abgeschrieben sein. Diese Briefe sind nicht echt. Sie waren überhaupt nur für die Polizei bestimmt. Nun müssen wir uns die folgende Frage stellen: ‹Ist Ratchett darauf hereingefallen?› Die offenkundige Antwort lautet: ‹Nein.› Seine Instruktionen an Hardman lassen auf einen ganz bestimmten persönlichen Feind schließen, dessen Identität er sehr wohl kannte. Dabei müssen wir allerdings Hardmans Geschichte als wahr unterstellen. Aber Ratchett hat mit Sicherheit mindestens noch einen ganz anders gearteten Brief erhalten, nämlich den, von dem wir ein Fragment in seinem Abteil gefunden haben – den mit dem Hinweis auf die kleine Daisy Armstrong. Dieser Brief sollte sicherstellen, dass Ratchett, falls er es noch nicht begriffen hatte, den Grund für die gegen ihn gerichteten Todesdrohungen verstand. Und wie ich von vornherein behauptet habe, sollte dieser Brief nicht gefunden werden. Also musste es die erste Sorge des Mörders sein, ihn zu vernichten. Und das war nun die zweite Panne in seinem Plan. Die erste war der Schnee, die zweite, dass es uns gelang, dieses Brieffragment zu rekonstruieren.
Dass der Brief so gewissenhaft vernichtet wurde, kann nur eines bedeuten: Es befindet sich jemand in di e sem Zug der eine so enge Beziehung zur Familie Armstrong hat, dass er unverzüglich in Verdacht geraten wäre, wenn man den Brief gefunden hätte.
Kommen wir nun zu den beiden anderen Hinweisen, die wir noch gefunden haben. Ich will den Pfeifenreiniger übergehen. Es wurde schon genug darüber gesagt. Wenden wir uns dem Taschentuch zu. Bei oberflächlicher Betrachtung belastet es eine Person, die ein H in ihren Initialen hat, und wurde von ebendieser Person unwissentlich am Tatort zurückgelassen.»
«Genau», sagte Dr. Constantine. «Dann merkt sie, dass sie das Taschentuch verloren hat, und ergreift sofort Maßnahmen zur Verschleierung ihres Vornamens.»
«Wie voreilig Sie doch sind. Sie ziehen Ihre Schlüsse schneller, als ich es mir je gestatten würde.»
«Gibt es denn eine andere Möglichkeit?»
«O ja, gewiss! Nehmen wir zum Beispiel einmal an, Sie hätten ein Verbrechen begangen und wollten den Verdacht auf jemand anderen lenken. Nun befindet sich im Zug jemand, der eine enge Beziehung zur Familie Armstrong hat – eine Frau. Nehmen wir weiter an, Sie hinterlassen am Tatort ein Taschentuch, das dieser Frau gehört. Sie wird verhört, ihre Beziehung zur Familie Armstrong kommt ans Licht – et voilà. Ein Motiv – und ein belastendes Beweisstück.»
«Aber», wandte der Doktor ein, «wenn die so belastete Person unschuldig wäre, würde sie ihre Identität doch nicht verschleiern wollen.»
«Ach nein? Glauben Sie das wirklich? So sehen es gewiss
Weitere Kostenlose Bücher