Mord im Spiegel
denn sie war bereits tot, als ich ankam.«
»Ganz recht«, sagte Miss Marple. »Du weißt nur, dass sie krank war, trotzdem aufstand und zu dieser Feier ging, wo sie Marina Gregg traf und sie um ein Autogramm bat, das sie auch erhielt.«
»Ich kenne die Geschichte«, erwiderte Craddock etwas ungeduldig. »Ich habe sie schon oft gehört.«
»Aber den einen wesentlichen Satz hast du nicht gehört, weil ihn niemand für bedeutsam hielt«, sagte Miss Marple. »Heather Badcock lag im Bett, weil sie die Röteln hatte.«
»Die Röteln? Was, in aller Welt, hat das mit ihrer Ermordung zu tun?«
»Es ist keine gefährliche Krankheit«, sagte Miss Marple. »Man fühlt sich eigentlich nicht krank. Man bekommt einen Ausschlag, den man mit Puder verdecken kann, und etwas Fieber, aber nicht hoch. Man kann sogar ausgehen und Leute sehen, wenn einem danach zu Mute ist. Und während Heather Badcock ihre lange Geschichte erzählte, fiel die Tatsache, dass es sich um Röteln handelte, nicht besonders auf. Mrs Bantry berichtete zum Beispiel nur, dass Heather Badcock krank gewesen sei, und sprach von Windpocken und Nesselfieber. Mr Rudd hier sagte, es sei eine Grippe gewesen, aber natürlich sagte er das absichtlich.
Doch ich persönlich bin überzeugt, dass Heather Badcock Miss Gregg erzählte, sie habe die Röteln gehabt und sei trotzdem aufgestanden, um sie zu sehen und ein Autogramm zu bekommen. Und das ist die Antwort auf unser Problem, denn Röteln sind äußerst ansteckend. Man kann sich sehr leicht anstecken. Und noch eins müssen Sie bedenken. Wenn eine Frau sich in den ersten vier Monaten ihrer – « Miss Marple sprach das nächste Wort mit einer altmodischen Schamhaftigkeit aus, »- hm Schwangerschaft ansteckt, kann das schreckliche Folgen für das Kind haben. Es kann blind zur Welt kommen oder schwachsinnig.«
Sie sah Jason Rudd an.
»Es ist doch richtig, wenn ich sage, Mr Rudd, dass Ihre Frau ein Kind zur Welt brachte, das geistig nicht normal war, und dass sie sich von diesem Schock nie richtig erholte? Sie sehnte sich nach einem eigenen Kind, und als sie es schließlich bekam, wurde daraus eine große Tragödie. Sie konnte es nicht vergessen – und wollte es wohl auch nicht –, und es wurde bei ihr zu einer Art Besessenheit, einer tiefen, nie vernarbenden Wunde.«
»Sie haben Recht«, erwiderte Rudd. »Marina hatte tatsächlich am Anfang ihrer Schwangerschaft die Röteln. Später bestätigten die Ärzte, dass diese Krankheit die Schuld an der Geistesschwäche ihres Kindes habe. Es war kein Fall von Vererbung oder so etwas. Marina hatte keine Ahnung, wo, wann und von wem sie sich die Krankheit zugezogen hatte.«
»Ja«, sagte Miss Marple, »bis zu jenem Nachmittag, als eine ihr völlig fremde Frau die Treppe heraufschritt und es ihr erzählte – und was noch wichtiger ist, es ihr mit großem Vergnügen erzählte. Sie war noch stolz darauf! Heather Badcock dachte, dass sie unerhört geschickt und tapfer gewesen sei und eine Menge Mut bewiesen habe, weil sie aufgestanden war und sich den Ausschlag überpudert hatte, um eine Schauspielerin zu sehen, die sie verehrte. Ihr ganzes Leben lang hat sie sich damit gebrüstet. Heather Badcock dachte sich nichts dabei. Sie meinte es nie böse, und doch sind es zweifellos solche Leute wie Heather Badcock – oder meine alte Freundin Alison Wilde –, die eine Menge Schaden anrichten können, weil sie keine – nein, es ist nicht der Mangel an Güte –, weil sie nicht bedenken, welche Auswirkungen ihr Handeln auf andere Leute haben könnte. Heather Badcock dachte immer nur daran, wie die Menschen sich ihr gegenüber benahmen. Sie verschwendete nie auch nur einen einzigen Gedanken darauf, was sie anderen vielleicht antat.«
Miss Marple nickte leicht.
»Deshalb starb sie – und die Ursache dafür reicht in ihre Vergangenheit zurück. Stellen Sie sich vor, was in diesem Augenblick in Marina Gregg vorging. Ich glaube, Mr Rudd versteht es sehr gut. All die Jahre über muss sie eine Art Hass auf die Unbekannte genährt haben, die die Ursache ihres Leides war. Und plötzlich steht sie der Frau von Angesicht zu Angesicht gegenüber. Einer Frau, die fröhlich und selbstsicher ist. Es war zu viel für sie. Wenn sie Zeit zum Überlegen gehabt, wenn sie Zeit gehabt hätte, sich zu beruhigen – doch das ließ sie nicht zu. Hier war die Frau, die ihr Glück und die Gesundheit und den Verstand ihres Kindes zerstört hatte. Sie wollte sie bestrafen. Sie wollte sie töten. Und
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