Mord im Spiegel
Marple eintrat, erhob sich Rudd von seinem Schreibtisch und blickte der schlanken alten Dame, die energisch auf ihn zutrat, leicht überrascht entgegen.
»Sie wollten mich sprechen?«, sagte er. »Was kann ich für Sie tun?«
»Ich bin über den Tod Ihrer Frau zutiefst erschüttert«, sagte Miss Marple. »Und ich weiß, wie groß Ihre Trauer ist. Ich möchte Sie bitten, mir zu glauben, dass ich mich Ihnen nicht aufdrängen würde, wenn es nicht absolut notwendig wäre. Es müssen dringend ein paar Dinge geklärt werden, weil es sonst ein Unschuldiger büßen muss.«
»Ein Unschuldiger? Ich verstehe Sie nicht.«
»Arthur Badcock«, sagte Miss Marple. »Er ist auf dem Polizeirevier und wird verhört.«
»In Zusammenhang mit dem Tod meiner Frau? Aber das ist unsinnig, völlig unsinnig! Er kann nicht im Haus gewesen sein. Er hat sie nicht einmal gekannt!«
»Ich glaube, er kannte sie«, sagte Miss Marple. »Er war mal mit ihr verheiratet.«
»Arthur Badcock? Aber – er war Heather Badcocks Mann! Bringen Sie da nicht etwas durcheinander?«, fragte er freundlich und verständnisvoll.
»Er war mit beiden verheiratet«, antwortete Miss Marple. »Mit Ihrer Frau war er verheiratet, als sie noch sehr jung war, ehe sie zum Film ging.«
Jason Rudd schüttelte den Kopf.
»Der erste Mann meiner Frau hieß Alfred Beadle. Er war Grundstücksmakler. Sie passten nicht zusammen und trennten sich ziemlich bald wieder.«
»Dann änderte Alfred Beadle seinen Namen in Badcock«, erklärte Miss Marple. »Er arbeitet auch hier bei einer Maklerfirma. Seltsam, dass manche Leute nie ihren Beruf wechseln und ihr ganzes Leben das Gleiche tun wollen. Ich glaube, das war auch der Grund, warum Marina Gregg spürte, dass er nicht zu ihr passte. Er konnte nicht mit ihr Schritt halten.«
»Was Sie mir da erzählen, überrascht mich sehr.«
»Ich versichere Ihnen, dass ich Ihnen keinen Roman erzähle und mir nicht alles nur eingebildet habe. Es handelt sich um Tatsachen. In einem kleinen Ort wie dem unseren spricht sich so etwas schnell herum, wissen Sie, nur dauert es etwas länger, bis man es auch im Herrenhaus erfährt.«
»Nun«, sagte Rudd zögernd, weil er nicht wusste, was er sagen sollte. Dann beschloss er, den Stier bei den Hörnern zu packen. »Und was kann ich für Sie tun, Miss Marple?«, fragte er.
»Wenn Sie erlauben, würde ich gern mit Ihnen in die Halle gehen, wo Sie damals am Tag des Wohltätigkeitsfestes zusammen mit Ihrer Frau die Gäste empfingen.«
Er warf ihr einen kurzen zweifelnden Back zu. War diese Frau doch nichts weiter als eine sensationsgierige alte Person? Aber Miss Marples Gesicht war ernst und würdevoll.
»Selbstverständlich«, sagte er schließlich. »Wenn Sie es wünschen. Kommen Sie mit.«
Er führte sie zum oberen Ende der Treppe und blieb dort stehen.
»Seit die Bantrys hier gewohnt haben, hat sich das Haus sehr verändert«, sagte Miss Marple. »Mir gefällt die große Halle hier oben. Also, wie war das noch? Die Tische müssen hier gestanden haben, und Sie und Ihre Frau – «
»Meine Frau empfing die Gäste hier«, sagte Rudd und zeigte auf eine Stelle an der Treppe. »Die Gäste kamen herauf, sie begrüßte sie und reichte sie an mich weiter.«
»Sie stand also hier«, sagte Miss Marple.
Sie machte ein paar Schritte und stellte sich genauso auf, wie Marina Gregg gestanden hatte. Rudd beobachtete sie verblüfft und interessiert. Miss Marple hob die rechte Hand, als wolle sie jemandem die Hand schütteln, und sah die Treppe hinunter, als erwarte sie Gäste. Dann blickte sie geradeaus. An der Wand in Höhe der halben Treppe hing ein großes Bild, die Kopie eines alten italienischen Meisters. Rechts und links davon waren schmale Fenster, das eine ging auf den Garten hinaus, das andere auf die ehemaligen Ställe mit dem Wetterhahn. Doch Miss Marple beachtete die Aussicht nicht. Ihr Blick blieb an dem Bild hängen.
»Natürlich hört man beim ersten Mal immer die richtige Version«, sagte sie. »Mrs Bantry erzählte mir, dass Ihre Frau das Bild anstarrte und ihr Gesicht wie versteinert war, wie sie es nannte.« Miss Marple betrachtete das rote und blaue Gewand der Madonna, die mit leicht zurückgebeugtem Kopf den Jesusknaben in ihren Armen anlächelte. »Das ist die lächelnde Madonna von Bellini«, sagte sie. »Ein religiöses Bild, aber auch die Darstellung einer glücklichen Mutter mit ihrem Kind. Finden Sie nicht auch, Mr Rudd?«
»Ja, das finde ich auch.«
»Jetzt begreife ich es«,
Weitere Kostenlose Bücher