Mord im Tiergarten - historischer Kriminalroman
vorgegangen war, und stellte alle Anwesenden mit Namen vor. Otto musste einräumen, dass Wilhelm Maharero ein beeindruckender junger Mann war, der sich nicht nur gewandt ausdrückte, sondern mit den breiten Schultern und den schmalen Hüften auch eine ansehnliche Erscheinung war. Er verstand gut, warum Igraine ihn hatte zeichnen wollen, und setzte sich zu den anderen Hereros auf den gestampften Lehmboden.
Ihm wurde ein Becher mit Milch – die Hauptnahrung der Hereros – angeboten, den er dankend annahm. Otto konnte zwar ein paar Brocken der Hererosprache sagen, aber ein richtiges Gespräch konnte er weder führen noch verstehen. So entwickelte sich ein sehr höflicher Austausch, der teilweise auf Deutsch, teilweise in der Sprache der Afrikaner und teilweise mit Händen und Füßen geführt wurde. Alle Anwesenden beteiligten sich daran. Otto lobte das aufwendige traditionelle Kleid von Martha Kamatóto, das nach allen Regeln der Handwerkskunst hergestellt worden war.
Unterdessen hatte Wilhelm Maharero einen großen Karton herbeigeschafft, den er neben Otto abstellte. »Bitte sehen Sie selbst. Das sind alles Briefe und Geschenke von deutschen Frauen. Ich bekomme jeden Tag mehrere Sendungen.«
Otto stieg ein schwindelerregender Parfümgeruch in die Nase, als er mit den Fingern über mehrere hundert Kuverts, über Strumpfbänder, seidene Wäsche und Spitzenschleifen strich. »Beeindruckend. Ich würde Ihnen und Ihren Angehörigen jetzt gerne einige Fragen stellen.«
»Sie haben mir geholfen und sind ein Freund unseres Volkes«, erwiderte Wilhelm Maharero. »Sie können alles fragen, was Sie wissen möchten.«
»Hat jemand gesehen, wer das Zigarrenetui entwendet hat?«
Wilhelm Maharero übersetzte die Frage, damit auch alle sie verstanden. Daraufhin setzte eine Diskussion ein, die damit endete, dass der Hereroprinz ihn ansah und sagte: »Es gibt ein Haus, in dem wir schlafen. Jeder hat dort einen Schrank. In ihm bewahre ich die Geschenke auf. Wenn wir hier eine Aufführung haben, steht das Haus meistens leer. Jeder könnte hineingehen und etwas stehlen. Leider hat niemand gesehen, wie jemand an meinem Schrank war.«
»Haben Sie Feinde?«, fragte Otto. »Kann sich einer der Anwesenden vorstellen, dass Ihnen jemand einen Mord anlasten will?«
Wieder übersetzte Wilhelm Maharero die Fragen, und wieder setzte eine Diskussion ein, die dieses Mal jedoch deutlich emotionaler ausfiel und länger dauerte. »Ich glaube nicht, dass das wichtig ist«, sagte der Hereroprinz, »aber die anderen sind der Meinung, dass ich Ihnen von einem bestimmten Vorfall berichten soll.«
»Was für ein Vorfall?«
»Gleich zu Beginn der Gewerbeausstellung hatten wir häufig Besuch von einem Mann, der ein Buch über die anthropologischen und ethnografischen Verhältnisse in den Schutzgebieten schreiben wollte. Er kam immer mit einer ganzen Schar von Assistenten und Hilfskräften …«
Otto überlegte, dass ein Völkerkundler hier paradiesische Verhältnisse vorfand. Auf engem Raum waren über hundert Schwarze untergebracht. Darunter waren Togoleute, Kameruner, Südwestafrikaner, Waswahilis und die Massai. Hinzu kamen noch die Ozeanier aus dem Kaiser-Wilhelms-Land und dem Bismarck-Archipel.
»Jedenfalls wollte der Mann, dass wir uns ausziehen, damit er Lichtbilder machen kann. Ich habe ihm gesagt, dass wir seinem Wunsch entsprechen, wenn er und seine Assistenten sich ebenfalls nackt fotografieren lassen.«
»Wie hat er reagiert?«
»Plötzlich wollte er keine Lichtbilder mehr anfertigen. Auch schien er nicht sehr erfreut zu sein, aber er hatte sich noch unter Kontrolle.«
»Noch?«
»Danach wollte er alle möglichen Messungen an uns vornehmen. Den Umfang des Kopfes, die Breite der Nasenwurzel und die Länge der Ohrmuschel wollte er mit diversen Geräten bestimmen. Ich habe ihm gesagt, dass wir uns nur vermessen lassen, wenn wir zuerst das Lineal anlegen dürfen. Dieses Mal ließ er sich auf meinen Vorschlag ein.«
In diesem Moment gestikulierte Martha Kamatóto heftig und warf etwas ein, das Wilhelm Maharero sogleich übersetzte: »Sie sagt, dass ich nicht vergessen soll, dass der Mann nur sehr widerstrebend einwilligte. Er brauchte über eine Stunde Bedenkzeit, in der er in einem Nebenraum laut schimpfend auf und ab lief.«
»War er sehr wütend?«, fragte Otto.
»Wer kann schon hinter die Stirn eines anderen Menschen schauen? Jedenfalls hat er seinen Teil der Vereinbarung erfüllt. Er hat sich vor mich hingestellt und sich
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