Mord in Babelsberg
vorbeigebracht. Leo wunderte sich immer wieder, wie harmlos Blut auf Fotos wirkte. Die klaffende Wunde hätte auch ein breites, schwarzes Halsband sein können. Die Flecken an der Wand unterschieden sich nicht von Ölfarbe oder Schmutz.
»Bisher gibt es keine Zeugen«, sagte Sonnenschein, der alle Protokolle durchgesehen hatte. »Niemand hat etwas bemerkt, weder auf dem Hof noch von einem der Fenster aus.«
»Wir sind noch nicht durch«, meinte Walther. »Kann sein, dass jemand früh zur Arbeit gegangen ist und Täter und Opfergesehen hat, ohne sich etwas dabei zu denken. Und noch gar nichts von der Sache weiß.«
Er schaute vorsichtig zu Leo, der seit geraumer Zeit nichts gesagt hatte. Er kannte seinen Freund gut genug und ahnte seit ihrer Begegnung in der Hausmeisterwohnung, dass etwas nicht stimmte. Leo verhielt sich nur selten schroff gegenüber Zeugen, weil er wusste, dass eine polizeiliche Befragung vielen Leuten Angst einflößte. Daher war sein Verhalten umso auffälliger gewesen.
In den Stunden danach hatte Leo konzentriert gearbeitet, die Befragung koordiniert, neu hinzugekommene Kollegen eingewiesen und Dr. Werneburg als Gennats Vertreter über den Fall in Kenntnis gesetzt. Die Meldebehörde wurde verständigt, um die Angehörigen ausfindig zu machen. Alles nach Vorschrift.
Doch Walther kannte ihn besser. Er sah hinter die Fassade. Etwas war geschehen, und es hatte mit der Toten in Riehmers Hofgarten zu tun.
4
MITTWOCH, 9. JUNI 1926
Die Herbstastern waren wunderschön, sie leuchteten in Lila und Weiß. Er hatte nicht widerstehen können, als er die Verkäuferin an der Ecke bemerkte. Sie hatte ihm die Rosen empfohlen, vermutlich waren sie teurer, doch er hatte abgelehnt. Keine Rosen.
Er trat in den Torbogen, in dem immer ein kalter Luftzug wehte, selbst wenn es überall sonst windstill war. Er trug noch seinen Sommermantel, es war ein warmer September.
Im Hof spielten einige Kinder, sie hatten mit Kreide Hüpfkästchen gezeichnet. Ein Junge hockte auf einer Mülltonne und schnitzte mit seinem Taschenmesser an einem Stock. Eine hochschwangere Frau hängte Wäsche auf und drückte zwischendurch die Hände in den schmerzenden Rücken.
Er ging ins Treppenhaus, erwartungsvoll, sein Herz schlug schneller. Es roch angenehm nach Zitrone, als hätte jemand den Sommer hier vergessen.
Mit jeder Stufe wurde er langsamer. Blieb stehen. Wollte schon wieder die Treppe hinuntergehen. Dann wandte er sich abrupt nach vorn und stieg energisch die letzten Stufen bis zu ihrer Wohnung hinauf.
Er klingelte. Niemand öffnete. Dann bemerkte er, dass die Tür angelehnt war. Er drückte vorsichtig dagegen, die Tür schwang auf. Sie stand im Flur, hatte ihm den Rücken zugewandt. Sie trug eine weiße Bluse und einen dunkelblauen Rock. Er hielt ihr die Astern hin. »Guten Abend. Ich habe Ihnen etwas mitgebracht.«
Sie drehte sich um. Der Schnitt klaffte wie ein zweiter Mund an ihrem Hals, alles war rot, die weiße Bluse, ganz rot –
Leo fuhr im Bett hoch. Sein Herz schlug so heftig, dass er kaum atmen konnte. Er schaute zu Clara. Sie hatte nichts gemerkt.
Er presste die Hände vors Gesicht, bis sein Atem ruhiger ging. Sein Herz raste noch immer. Er sah auf den Wecker. Viertel nach fünf. Er stand leise auf, suchte seine Kleidung zusammen und verließ das Schlafzimmer. Im Bad spritzte er sich kaltes Wasser ins Gesicht und begann, sich zu rasieren. Seine Hand zitterte. Er wartete einen Moment, bevor er das Rasiermesser wieder ansetzte. Als er fertig war, ging er in die Küche und kochte Kaffee. Er sah auf die Uhr. Zwanzig vor sechs. Er würde zu Fuß zur Arbeit gehen, was er selten tat; immerhin waren es gute sechs Kilometer bis zum Alexanderplatz. Doch heute war ihm danach. Er schrieb Clara einen Zettel und legte ihn auf den Tisch; die Kaffeekanne stellte er zum Warmhalten auf den Herd. Dann holte er Hut, Jackett und Aktentasche und verließ leise die Wohnung.
Draußen auf der Straße atmete er tief durch. Es war schon warm, aus einer nahe gelegenen Bäckerei drang der Geruch von frischem Brot. Leo kaufte eine Schrippe und aß im Gehen. Der Tag war blau und golden und lud dazu ein, sich irgendwo in die Sonne zu setzen und den erwachenden Sommer zu genießen.
Gestern Abend war es ihm gelungen, sich nichts anmerken zu lassen, das hoffte er jedenfalls. Clara hatte ihn noch einmal auf die Kindermorde angesprochen, und er hatte sie in dem Glauben gelassen, dass ihn der Gedanke daran bedrückte. Robert hingegen konnte er
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