Mord in Babelsberg
dachte, zog sich etwas in ihr zusammen, drohte ihr die Luft abzuschnüren.
Das kleine Dorf im Bayerischen Wald, fernab jeder größeren Stadt. Ungepflasterte Straßen, schäbige Häuser. Der Hof ihres Vaters – sie erinnerte sich noch an den Schlamm, in dem man bis zu den Knöcheln versank, den durchdringenden Geruch der Ställe, die harte Arbeit, die nie weniger wurde. Die dunklen Wälder, die das Dorf umschlossen, es von der Welt da draußen abschirmten, als wären sie eifersüchtig auf deren Verlockungen. Hier war Karola Huber aufgewachsen.
Und hier hatte sie an einem Abend, als sie auf der harten Bank vor dem kleinen Marienaltar kniete, den die Mutter noch zu Lebzeiten aufgestellt hatte, den Entschluss gefasst, wegzugehen. Nur mit einer alten Tasche, in der Wäsche zum Wechseln, ihr Sonntagskleid und der Rosenkranz steckten, war sie zu Fuß in die Kreisstadt gelaufen. Dort hatte sie den Rosenkranz versetzt, immerhin war die Kette aus Perlmutt.
Die Türklingel riss sie aus ihren Erinnerungen. Gut so. Sie kehrte nicht gern dorthin zurück, nicht einmal in Gedanken.
Vor der Tür stand ein Botenjunge, der ihr eine lange, flache Schachtel hinhielt. »Fräulein Vasary?«
Sie nickte.
»Bitte hier quittieren.« Er hielt ihr einen Zettel hin und tippte sich an die Mütze, nachdem sie unterschrieben hatte. »Danke. Einen schönen Tag, die Dame.«
Sie schloss die Tür hinter sich und trug die Schachtel zum Bett. Das Geschenk war in weißes Seidenpapier mit eingeprägtem Schriftzug gewickelt und mit einer goldenen Kordel verschnürt, unter der ein Briefumschlag steckte. Carla zog ihn heraus und las die Karte, die darin lag. Für den Abend, nach dem alle Deinen Namen kennen werden. VK.
Sie lächelte bei sich und schlug das Seidenpapier auseinander. »Oh«, hauchte sie. Eine Stola, silbergrau, aus feinster Häkelspitze, mit winzigen glitzernden Steinchen besetzt, die wie Tautropfen schimmerten. Sie legte sie um. Ein zarter Wasserfall, der sich über ihre Schultern ergoss. Wie geschaffen für ihr Kleid. Woher hatte Viktor gewusst, was sie tragen würde?
Sie schaute kokett über die Schulter in den Spiegel, den Kopf leicht zur Seite geneigt. Ja, dies würde ihr Abend.
Im Präsidium herrschte große Unruhe. Am Vortag hatte Ernst Gennat sich mit einem Bericht über die neuesten Entwicklungen aus Breslau gemeldet, der selbst erfahrene und abgehärtete Kriminalbeamte entsetzte. Der Kriminalrat war mittlerweile davon überzeugt, dass es sich um einen Täter handelte, der schon gemordet hatte und womöglich wieder töten würde. Auf Gennats Anweisung hin hatte Werneburg eine Liste mit elf Morden aus dem Gebiet des Deutschen Reichs zusammengestellt, die mit den Kindermorden von Breslau vergleichbar und nie aufgeklärt worden waren.
»Die Sache übernehme ich selbst, Wechsler. Noch weiß niemand, wie lange der Chef in Breslau bleibt«, sagte Werneburg.»Sie bekommen für den Fall Dornow alle Leute, die Sie brauchen. Stellen Sie Ihre Kommission zusammen.«
»Wir können nur hoffen, dass er den Täter findet.«
Werneburg seufzte. »Wer, wenn nicht er?«
In Leos Büro warteten Robert Walther und Jakob Sonnenschein mit weiteren Kollegen, die er bereits für die Ermittlungen angefordert hatte.
»Wir setzen die Befragung fort, den Plan kennen Sie ja alle. Heute Nachmittag um vier treffen wir uns im Besprechungszimmer. Sonnenschein, sagen Sie Delbrück Bescheid, wir überprüfen die Wohnung der Toten.«
Walther sah ihn überrascht an. »Und ich?«
»Du koordinierst die Befragung.« Leos Tonfall ließ keinen Widerspruch zu. Walther nickte den Kollegen zu. »Meine Herren.« An der Tür drehte er sich noch einmal um. »Bis nachher.« Seine Stimme klang angespannt.
Leo war nicht sonderlich stolz auf sich, als er mit Sonnenschein das Büro verließ. Sein Kollege war zurückhaltend wie immer, doch als sie in den Wagen stiegen, sagte er: »Herr Kommissar, ich hätte ebenso gut …«
Leos Blick ließ ihn innehalten. Er wechselte rasch zu einem unverfänglichen Thema und erzählte von seiner Opernleidenschaft. »Ich habe schon zwei Karten für November vorbestellt. Turandot , Bruno Walter wird dirigieren.«
»Für Sie und Ihre Verlobte?«, fragte Leo, der froh war, weder über die Morde in Breslau noch über den Fall Dornow sprechen zu müssen.
»Ja. Esther liebt Musik und spielt wunderbar Violine.« Er zögerte. »Manchmal denke ich, sie könnte eine große Karriere als Musikerin vor sich haben, aber ihre Eltern … Sie wissen
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