Mord in Babelsberg
kein eigenes Telefon und rief aus einem Geschäft oder einer Gaststätte an.
»Kommissar Wechsler, Kriminalpolizei Berlin. Sind Sie Herr Egon Dornow, Vater von Marlene Dornow?«
»Ja, der bin ich.« Es klang zögernd, beinahe fragend. Seine Worte gingen fast im Stimmengewirr unter. Kneipe, dachte Leo. Das konnte heiter werden.
»Was ist mit dem Mädchen?«, fragte der Mann. »Hab seit Jahren nichts von ihr gehört.«
Bei dem Wort »Mädchen« musste Leo tief durchatmen. Gleichzeitig stieg Zorn in ihm auf. Warum hatte der Dorfgendarm oder wer immer dort Dienst tat, den Mann nicht darauf vorbereitet? Es war furchtbar, Eltern solche Nachrichten zu überbringen – zumal am Telefon und bei diesem Lärm –, selbst wenn die Kinder erwachsen waren und sich seit Jahren nicht bei ihnen hatten blicken lassen. Marlen hatte ihre Familie nie erwähnt, so wie sie überhaupt selten über sich gesprochen hatte. Sie hatte ihn erzählen lassen, wenn ihm danach war. Zuhören konnte sie gut.
»Es tut mir sehr leid, Herr Dornow, aber Ihre Tochter ist tot.«
Es hörte sich an, als würde unmittelbar neben dem Telefon ein Stuhl umfallen. Brüllendes Gelächter, ein wütender Schrei: »Haut ab, ihr alle! Lasst mich in Ruhe!« Dann war Egon Dornow wieder am Apparat. »Können Sie das noch mal sagen?«
Leo fluchte innerlich und wiederholte seine Worte.
»Tot? Ein Unfall? In Berlin ist doch so viel Verkehr.«
»Herr Dornow, Ihre Tochter wurde getötet. Ich leite die Ermittlungen.«
Stille. Dann ein leises, kaum hörbares Schluchzen. »Nein … ich kann das nicht … meine Lene. Meine Lene.«
Ob er der Erste war, der um sie weinte? Leo schob den Gedanken mit Gewalt beiseite, als Dornow fortfuhr: »Wer? Wie …?« Dann versagte ihm die Stimme.
Leo dachte an Sonnenschein, der ihm geraten hatte, den Fall abzugeben, und an seine eigenen Zweifel. Nein, er würde nicht beiseitetreten und die Suche nach Marlens Mörder einemKollegen überlassen. Er würde zu Ende bringen, was er begonnen hatte. »Wir haben den Täter noch nicht gefasst. Er hat sie am Hals verletzt. Mit einer Glasscherbe. Es ist ziemlich schnell gegangen.« Nicht schnell genug, aber das musste der Vater nicht erfahren. Darum fügte er rasch hinzu: »Leider muss ich Ihnen einige Fragen stellen. Sie sagen, Sie hätten Ihre Tochter lange nicht gesehen. Haben Sie einander geschrieben? Wissen Sie etwas über ihr Leben in den letzten Jahren?«
»Nein. Sie hat … am Anfang hat sie geschrieben. Von der Stelle in der Drogerie.« Leo bezweifelte, dass Marlen jemals in einer Drogerie gearbeitet hatte. »Und dass es ihr gutgeht. Dass sie einen netten jungen Mann kennengelernt hätte, der es ernst mit ihr meinte.« Genau das, was sich ein besorgter Vater wünschte. Geschickt.
»Wann ist sie nach Berlin gegangen, Herr Dornow? Und könnten Sie bitte etwas lauter sprechen, ich kann Sie schlecht verstehen.«
»Vor sechs Jahren muss das gewesen sein … Februar zwanzig. Kalt war es, das weiß ich noch. Die Fische im See sind erstickt damals. Lene wollte weg, was aus sich machen. Wissen Sie, sie wollte schon immer mehr, was Besonderes sein. Hans ist hiergeblieben und hat eine Hoferbin geheiratet. Das erste Enkelkind ist unterwegs.«
»Gratuliere«, sagte Leo, doch es kam ihm wie eine Floskel vor. Verdammt, warum fiel ihm das hier so schwer? Sie schwiegen eine Weile. Dann sammelte sich Leo und fuhr fort: »Sie wissen also nichts über ihr Leben in Berlin, mit wem sie befreundet war, wovon sie lebte, in welchen Kreisen sie verkehrte?«
»Ich wusste nicht mal, dass sie tot ist«, sagte der Mann unerwartet heftig. »Wie sollte ich da all die anderen Sachen wissen?«
»Es tut mir leid, Herr Dornow, aber wir müssen diese Fragenstellen. Sie wollen sicher auch, dass dieses Verbrechen aufgeklärt wird.«
Wieder das Schluchzen. »Ja. Kann ich sie … hierher holen?«
»Wir werden Sie verständigen, sobald die Leiche freigegeben wird. Dann können Sie sie überführen, falls Sie das möchten.«
»Sie soll neben ihrer Mutter liegen, wie es sich gehört. Nicht in Berlin.« Es klang fast wie ein Schimpfwort.
»Gewiss. Wir melden uns bei Ihnen, wenn es so weit ist.«
»Dann muss ich ja in die Großstadt. Die Großstadt ist gefährlich«, sagte Dornow zusammenhanglos.
Leo wollte widersprechen, besann sich aber eines Besseren. »Vielen Dank, dass Sie meine Fragen beantwortet haben. Und ich möchte Ihnen noch einmal mein Beileid aussprechen. Ihre Tochter … wir werden den Täter finden. Auf
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