Mord in Babelsberg
Kindern Gute Nacht. Leo schärfte ihnen ein, innerhalb der nächsten Stunde ins Bett zu gehen, bevor sie sich auf den Weg machten. Es roch frisch nach dem Regen, in der Ferne wurde der Himmel noch von vereinzelten Blitzen erhellt.
Sie gingen die Turmstraße entlang und bogen dann nach Alt-Moabit ab. Das Kino befand sich im Erdgeschoss eines großen, grauen Mietshauses, schräg gegenüber ragte der gewaltige Bau des Kriminalgerichts empor. Einen kaiserlichen Faustschlag ins Gesicht der Moabiter Arbeiterklasse hatte es ein Staatsanwalt einmal genannt, und tatsächlich passte der Klotz mit seinen hohen Türmen nicht in die Gegend, in der viele kleine Leute wohnten. Eine Demonstration der Macht, dachte Leo bei sich, die einschüchterte, statt die tröstliche Gewissheit zu verbreiten, dass hier Recht gesprochen wurde.
In der Warteschlange vor der Kasse gab es nur ein Gesprächsthema, die Nachricht von Viktor Königs Tod hatte schnell die Runde gemacht. Die Abendzeitungen hatten groß darüber berichtet, obwohl die Polizei bislang wenig bekanntgegeben hatte. Daher war das meiste, was geschrieben wurde, reine Spekulation.
»Erschossen«, sagte eine Frau. »Ein Raubmord, wie es heißt.«
»Wer weiß, was dahintersteckt«, bemerkte eine herablassende Männerstimme hinter Leo und Clara. »Bestimmt was Skandalöses. Filmleute, ist doch bekannt, wie die sind.«
»Nein, nein«, warf die Freundin der Frau ein, »ich habe gehört, er soll erstochen worden sein.«
»Wie furchtbar.«
Leo sah Clara mit hochgezogenen Augenbrauen an.
»Du hast Feierabend«, sagte sie und legte ihm lächelnd die Hand auf den Arm.
Der Film war tatsächlich hervorragend. Leo war verblüfft, wie vollkommen anders Carla Vasary auf der großen Leinwand wirkte. Es war nicht so sehr ihr Aussehen, obwohl sie durchaus stark geschminkt war, als vielmehr ihre ganze Körperhaltung, die Anmut und Würde ausstrahlte und sie weit selbstsicherer wirken ließ als vorhin in seinem Büro.
Besonders faszinierend waren die Außenaufnahmen, die auf der Pfaueninsel gedreht worden waren, dem Originalschauplatz, an dem der Alchemist sein Labor gehabt hatte. Man sah auf den ersten Blick, dass es keine Bäume aus Pappmaschee und Häuser aus stoffbezogenen Holzrahmen waren, sondern echte Natur. Die Liebesgeschichte war vermutlich ausgedacht – ein Bauernmädchen aus der Umgebung, gespielt von Carla Vasary, verliebt sich in den angeblichen Magier, sehr zum Missfallen ihrer Nachbarn, die sich vor der geheimnisvollen Insel fürchten, von der seltsame Gerüche und schwarze Rauchschwaden herüberziehen. Sie zu betreten ist ihnen strengstens untersagt.
Er behauptet, er mache Glas. Doch in Wahrheit ist er mit dem Teufel im Bunde , lautete ein Zwischentitel.
Die Dorfbewohner drohen, das Mädchen zu töten, dochJohann Kunckel kommt ihr zu Hilfe und nimmt sie zu sich. Als er beim neuen König in Ungnade fällt und die Insel schließlich aufgeben muss, bricht er mit dem Mädchen auf, um am schwedischen Königshof sein Glück zu machen.
Nach dem Ende des Films herrschte beeindruckte Stille. Die Zuschauer erhoben sich leise von ihren Stühlen und gingen ehrfürchtig aus dem Kinosaal. Es war, als spürten sie, dass sie große Kunst gesehen hatten. Und zugleich wussten die meisten von ihnen um das Schicksal des Regisseurs.
Als Leo und Clara Hand in Hand nach Hause gingen, sagte er unvermittelt: »Das mit dem Glas ist interessant.«
Sie durchquerten Alt-Moabit und bogen in die Turmstraße ein.
»Woran denkst du dabei?«
»Beide Opfer wurden mit einer roten Scherbe getötet«, sagte Leo. »Der Täter handelt mit Bedacht. Die Tatwaffen hatten einen ganz bestimmten Sinn.«
»Sicher, Viktor König war der Regisseur. Und in dem Film kommt ein Alchemist vor, der Glas hergestellt hat. Aber was hat das mit der toten Frau zu tun?«
»Das weiß ich nicht. Noch nicht.«
Er merkte, wie Clara langsamer wurde, als zögerte sie, nach Hause zu gehen. »Es war sehr schön heute Abend. In den letzten Tagen dachte ich manchmal … ich weiß nicht …«
Leo legte ihr den Arm um die Schulter und zog sie eng an sich. Clara wollte gerade noch etwas über den Film sagen, als er sie unvermittelt in einen dunklen Hauseingang schob.
»Leo …«
Mehr brachte sie nicht heraus, bevor er sie küsste. Nicht sanft, sondern mit einer Leidenschaft, die sie atemlos zurückließ. Und ihm war, als könnte er damit die Bilder der letzten Tage vertreiben – das abstrakte Wandgemälde in Riehmers Hofgarten,
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