Mord in Der Noris
festlegen.« Da war sie wieder, die ewige Vorsicht der Pathologen.
»Bitte, Frieder, ich brauche einen Anhaltspunkt. Nur
einen Circa-Wert.«
Seine Antwort ließ ein Weilchen auf sich warten. Nach
reiflicher Überlegung sagte er schließlich: »Erstochen wurde sie am Montagabend
so gegen dreiundzwanzig Uhr fünfzehn plus/minus fünfzehn Minuten, das weißt du
ja. Und vergiftet? Ich würde sagen: vor maximal sechs Tagen bis Minimum drei
Tagen. Denn bei einem länger zurückliegenden Zeitpunkt hätte sie gar keine
Haare mehr gehabt. Exakter kann ich es dir leider nicht sagen.«
»Das reicht doch schon, danke. Dann war das ja
sozusagen ein Doppelmord.«
»So könnte man sagen, ja. Wobei … Was meinst du mit
Doppelmord: ein- und derselbe Täter, der zweimal in Aktion tritt? Weil ihm
später Zweifel kommen, ob sein erster Plan wirklich tödlich war? Oder denkst
du, es waren zwei Täter, die unabhängig voneinander zugeschlagen haben, der
erste mit dem Gift, der andere mit dem Messer?«
»Eigentlich meinte ich zwei Täter. Aber du hast schon
recht, die andere Variante, die mit dem Zweifachmörder, ist genauso gut
denkbar«, antwortete sie. Noch während sie sprach, ging ihr eine Variation der
zweiten Möglichkeit durch den Kopf: zwei Täter, die sich untereinander
abgesprochen hatten, also in einer Beziehung zueinander standen.
Nur zu gern hätte sie sich mit dem Gerichtsmediziner
noch über weitere Möglichkeiten zu diesem Doppelmord frei assoziierend
unterhalten, aber da sie wusste, dass freie Gedankenassoziationen seine Sache
nicht waren, beließ sie es dabei und sagte stattdessen:
»Dieses Thallium wurde doch auch als Rattengift
verwendet, oder? Aber meines Wissens ist es gar nicht mehr frei im Handel
erhältlich. Wer hat denn darauf überhaupt noch Zugriff?«
»Thalliumsulfat«, verbesserte Frieder sie. »Thallium
ist ein Metall, Thalliumsulfat dagegen eine chemische Verbindung. Eine
geruchlose. Aber mit dem anderen hast du recht: Dieses Rattengift – der Begriff
Zelio-Giftkörner sagt dir bestimmt was? – ist Mitte der siebziger Jahre ganz
rigoros vom Markt genommen worden, seitdem gibt es das offiziell nicht mehr.
Doch bis dahin konnte sich jeder private Haushalt mit solchen Fraßködern nach
Lust und Laune eindecken. Massenweise wurde das damals verkauft und verwendet,
übrigens nicht nur als Rattengift, aber das nur nebenbei. Heutzutage kann
Thalliumsulfat nur noch mit Genehmigung der Bundesgesundheitsbehörde zur
Ratten- und Mäusevertilgung eingesetzt werden. In Werkshallen und Lagerräumen
zum Beispiel.«
»Weil du sagst: nicht nur als Rattengift, wofür kann
oder konnte man es denn sonst noch gebrauchen?«
»Pferden hat man es auch verabreicht. Damals glaubte
man, dass sie dadurch ein schöneres Fell kriegen. Und blitzende Zähne.«
»Bei Pferden wirkt es dann wohl nicht tödlich
beziehungsweise nicht so schnell tödlich?«
»Wie du sagst: Es wirkt nicht so schnell. Das kommt
immer auf die Dosis an. Und da vertragen Rösser eben mehr als Menschen. Aber
der Gesundheit dienlich ist es auch bei Pferden nicht. Beim Menschen gelten
schon achthundert Milligramm als absolute Obergrenze.«
»Aha. Aber ich frage mich schon, wer an dieses
Thalliumsulfat herankommen kann, wo es doch vor fast vier Jahrzehnten so
rigoros vom Markt genommen und verboten wurde?«
»Tja, das ist eine interessante Frage, Paula. Es wurde
zwar verboten, aber nicht immer wurde dieses Verbot auch streng eingehalten.
Das musst du dir mal vorstellen: Bis Ende der neunziger Jahre konnte man es
sogar noch in einigen Apotheken kaufen! Vereinzelt, aber immerhin. Und auch an
den Unis hatte man noch Anfang der achtziger Jahre relativ leicht Zugriff
darauf. Du weißt doch, ich habe in Erlangen studiert. Vor allem die
Chemiestudenten haben während meiner Studienzeit alles aus den Labors mitgehen
lassen, was nicht niet- und nagelfest war. Nicht unbedingt aus einem
hochdramatischen kriminellen Motiv heraus, sondern um ihr eigenes Labor daheim
zu komplettieren. Also, denkbar ist es durchaus, dass sich in dem einen oder
anderen Privathaushalt noch solches Thalliumsulfat aus älteren Beständen
befindet.«
Sie und Frieder beendeten das Gespräch mit dem
üblichen Artigkeitsritual. Sie dankte ihm ausgesprochen herzlich für seine
Informationen, und er wehrte diesen Dank wie immer mit den Worten ab: »Da nicht
für. Dafür bin ich doch da.«
Anschließend wählte sie Dennerleins Nummer und stellte
ihm die Frage, die ihr während des Gesprächs
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