Mord in Der Noris
geahnt. Sie hat ja niemanden in ihre Wohnung
gelassen, wirklich niemanden, nicht einmal Kolleginnen, die sie ihrerseits hin
und wieder besuchte, hat sie zu sich nach Hause eingeladen. Also, vermutet
haben wir das alle hier.«
»Dann haben wir Aussagen von Zeugen, die sie als
extrem geizig schildern. Können Sie auch das bestätigen?«
»Extrem geizig, tja, ich weiß nicht, ob es das
trifft.«
Es war der Verwaltungsleiterin anzusehen, wie sie sich
bemühte, diesen Spagat zwischen den Erfordernissen der Wahrheit und jenen des
Anstands, der verlangt, über eine Tote nur Gutes zu verlautbaren, einigermaßen
seriös zu schlagen.
»Aber sparsam war sie auf jeden Fall, nicht eben die
Freigiebigste. Wenn wir zum Beispiel bei einem Geburtstag eines Kollegen alle
zusammengelegt haben, hat sich Frau Platzer rausgehalten. Sie sagte in solchen
Situationen immer, dass die Menschen hier in Mitteleuropa doch schon alles
hätten. Oder wenn es um ein Geldpräsent ging, dass ihr das zu schäbig sei, einfach
nur Geldscheine zu überreichen.«
»Weiter liegen uns Zeugenaussagen vor, Frau Striegel,
dass sich Ihre Mitarbeiterin gemobbt fühlte. So sehr, dass sie schon überlegte,
ihren Arbeitsplatz aufzugeben. Hatte Frau Platzer mit dieser Einschätzung
recht?«
»Nein«, lautete die prompte und auch ein wenig empörte
Antwort. »Damit hatte Frau Platzer ganz und gar nicht recht. Wobei ich mir aber
schon vorstellen kann, warum sie so etwas Unrichtiges Ihren Zeugen gegenüber
behauptet hat.«
Wieder überlegte die Verwaltungsleiterin, wie sie bei
dem nun Folgenden der offenbar unangenehmen Wahrheit genauso wie dem Respekt
gegenüber der Toten die Ehre geben könnte. Doch diesmal musste der Respekt
gegenüber der Wahrheit in den Hintergrund treten.
»Der Grund dafür ist wahrscheinlich darin zu suchen,
dass sich Frau Platzer geschämt hat. Denn gemobbt wurde sie meines Wissens hier
im Haus nicht, aber wir haben ihr mehrere Male die Beendigung ihres
Arbeitsverhältnisses nahegelegt.«
»Und warum das?«, fragte Paula.
»Weil sie in letzter Zeit so viele Fehlzeiten
zusammengebracht hatte, dass wir …« Irene Striegel unterbrach sich und sah zum
Nachbartisch, an dem soeben eine scheinbar alterslose zierliche Dame Platz
nahm, die weißen Haare frisch und akkurat onduliert, eine Perlenkette über dem
beigefarbenen Rollkragenpullover.
Nach einer Weile fügte sie in deutlich gedämpftem Ton
fort: »Wissen Sie, wir haben fünfundneunzig Bewohner, sechsundsiebzig davon im
Modell betreutes Wohnen, fünfzehn in der stationären Pflege, der Rest in der
Tagesbetreuung. Das ist für ein Seniorenstift wie das unsere viel. Was ich
damit sagen will, ist: Wir können es uns auf Dauer einfach nicht leisten, dass
unsere Pflegekräfte überraschend und über mehrere Wochen hinweg
krankheitsbedingt ausfallen. Zusätzlich zu den üblichen Fehltagen. Frau
Platzers Ausfälle konnten wir nur einigermaßen ausgleichen, indem die
Kolleginnen und Kollegen immer wieder für sie einsprangen. Das haben diese am
Anfang gern getan, aber irgendwann war mit dieser Hilfsbereitschaft Frau
Platzer gegenüber auch Schluss.«
»Hat Ihnen Frau Platzer erzählt, was der Grund für
dieses häufige Fehlen war?«
»Wir haben sie gefragt, anfangs vorsichtig, um sie
nicht vor den Kopf zu stoßen, schließlich deutlicher, aber sie hat immer nur
darauf geantwortet: Sie sei nicht verpflichtet, darüber zu reden. Das stimmt
auch, das ist beziehungsweise war ihr gutes Recht. Aber ich musste ja auch
sehen, wo ich blieb. Immer wieder war ich gezwungen, die komplette
Diensteinteilung über den Haufen zu werfen, und das alles nur wegen Frau
Platzer. Wenn ich gewusst hätte, was der Grund ihrer häufigen Krankmeldungen
war, hätten wir ihr eventuell helfen können. Mit einer längeren Freistellung
beispielsweise, damit sie sich gründlich auskuriert hätte und danach wieder
voll einsetzbar gewesen wäre. Verstehen Sie?« Das klang wie eine
Rechtfertigung.
»Wie viele Fehltage hatte sie denn in letzter Zeit?«
Irene Striegel brauchte keine Sekunde, um darauf zu
antworten. »Im letzten Jahr waren es dreiundfünfzig Tage, und in diesem Jahr
auch schon wieder achtzehn. In nicht einmal drei Monaten! Da mussten wir
handeln.«
Diese Größenordnungen kamen Paula sehr vertraut vor:
Das waren Zahlen, die auch Heinrich in einem solchen Zeitrahmen schaffte, und
zwar locker schaffte. Sie sah amüsiert zu ihm, der ihrem Blick mit einer
gewissen Forschheit standhielt.
»Das heißt: Sie haben
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