Mord in Der Noris
Büro angekommen, kümmerte sich Eva Brunner eilfertig um die Unterlagen
und Adressen. Paula kramte in ihrer Tasche nach dem Notizblock.
»Haben Sie noch zehn Minuten Zeit?«, fragte sie,
nachdem sie einen Blick darauf geworfen hatte.
»Ja, natürlich.«
»Wir suchen den Halbbruder oder die Halbschwester von
Elvira Platzer. Die Mutter ist eine gewisse Gertraude Klemm. Und wenn die Rupp
recht hat, dann ist deren zweites ebenfalls uneheliches Kind nur wenige Jahre
nach Elvira Platzer auf die Welt gekommen.«
Immer wieder hatte die Anwärterin während ihrer Rede
zustimmend genickt. »Ich weiß, Frau Steiner. Ich war ja bei der Vernehmung
gerade dabei.«
Jetzt endlich begann die Hauptkommissarin mit ihrem
Bericht an Fleischmann.
Kurze Zeit später ein triumphaler Brunner’scher
Aufschrei.
»Es ist eine Halbschwester. Sie heißt Melitta
Ruckdäschel. Mädchenname Klemm, geboren 1963 in Nürnberg. Keine Vorgänge,
wohnhaft in der Waltherstraße.«
»Das ist ja gleich in der Nähe. Da können wir gut zu
Fuß hingehen.« Sie griff nach ihrer Jacke und sah ihre Mitarbeiterin
auffordernd an.
Bei dem Marsch Richtung Deutschherrnwiese, in die
Rosenau, eilte sie Eva Brunner voraus. Erst als sie an der Ampelanlage vor dem
viel befahrenen vierstreifigen Spittlertorgraben stand, konnte die Anwärterin
sie einholen. Gemeinsam sahen sie zu, wie die Ampel auf Grün schaltete.
»Soll ich mich bei der Befragung jetzt besonders
verhalten, Frau Steiner? Haben Sie einen bestimmten Verdacht?«
»Nein, weder das eine noch das andere«, antwortete
sie. »Wir werden lediglich der Elvira Platzer am nächsten stehenden Verwandten,
eben dieser Frau Ruckdäschel, die Nachricht vom gewaltsamen Tod ihrer
Halbschwester überbringen. Und ein paar Fragen stellen.«
Schließlich hatten sie die Waltherstraße erreicht und
standen vor einem lang gezogenen Kasten mit winzigen Wohnungen, wie sie an der
Vielzahl der Klingelschilder ablesen konnten. Zu ihrer Überraschung sprang die
Tür bereits kurz nach dem ersten Läuten auf.
Melitta Ruckdäschel wohnte in der obersten Etage. Im
Türrahmen der Wohnung stand abwartend eine hübsche große, fast hagere Blondine
in einem dunkelblauen Hausanzug aus Nickistoff. Langes Haar, das ihr in einer
üppigen weichen Welle auf den Schultern aufsprang, dezentes Augen-Make-up.
Paula stellte sich und ihre Mitarbeiterin vor. In
diesem probaten Ton der Amtsperson, der es oblag, eine unerfreuliche Botschaft
zu überbringen, fragte sie: »Dürfen wir kurz hereinkommen, Frau Ruckdäschel?
Ich fürchte, wir haben Ihnen etwas Trauriges mitzuteilen.«
Erstaunt und doch bereitwillig wurden sie in die
Wohnung gebeten. Die kleine L-förmige Diele war dermaßen vollgestellt mit
meterhohen Metallgestellen, die allesamt verblasste Gebinde aus Trockenblumen
enthielten, dass Paula froh war, in das zwar ebenfalls kleine, aber doch
einigermaßen begehbare Wohnzimmer treten zu können. Während Eva Brunner darauf
bestand, stehen zu bleiben, setzte sie sich auf das Zweiersofa mit dem
schwarzen Lederbezug. Dann nahm auch Melitta Ruckdäschel Platz, auf einem
tiefen Sessel mit rotem Wollbezug.
Schließlich sagte Paula ihr, dass ihre »Schwester
Elvira am vergangenen Montag bedauerlicherweise einem brutalen Gewaltverbrechen
zum Opfer gefallen« sei.
Melitta Ruckdäschel reagierte so, wie sie erwartet
hatte: schweigsam, mit einem entsetzten Gesichtsausdruck.
»Und ein Irrtum ist ausgeschlossen?«, fragte sie in
einem Ton, der die Antwort schon vorwegnahm.
»Ja. Leider.«
»Warum kommen Sie mit dieser furchtbaren Nachricht zu
mir? Also, ich meine, wie haben Sie herausgefunden, dass Elvira und ich
Halbschwestern sind?«
»Das war nicht schwer«, antwortete Paula freundlich,
»für uns von der Polizei gibt es da ja alle Möglichkeiten.«
Angestrengtes Schweigen. Nach einer Weile sagte
Melitta Ruckdäschel: »Jetzt hab ich das erst richtig begriffen. Dass Elvira tot
ist. Ermordet wurde. Wer tut denn so etwas?«
Dieselbe Frage hatte Paula erst vor Kurzem gehört, von
einem fast so verzweifelten wie wütenden Erwin Platzer. Aber weder das eine –
die Rage – noch das andere – den Schmerz – hörte sie bei der Frage der
Halbschwester Elvira Platzers heraus.
»Das wissen wir leider auch nicht – noch nicht.
Deswegen sind wir ja unter anderem zu Ihnen gekommen. Vielleicht können Sie uns
irgendetwas sagen, was uns bei der Recherche weiterhilft?«
»Gern, wenn ich Ihnen behilflich sein kann«,
antwortete Melitta Ruckdäschel
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