Mord in Der Noris
Platzer gegenüber war in dem Bericht nun auf
einmal zu einem »Tatverdächtigen« herangereift. Und bei allen sah sie dasselbe
Motiv – die Habsucht, die Gier nach dem Geld der Elvira Platzer. Sie hätte
Fleischmann gern auch ein weniger banales, ein diffizileres kriminelles Motiv
unterbreitet.
Aber ihr wollte einfach kein anderer Grund einfallen,
dessentwegen jemand die einsame, schon seit Jahren wie eine Eremitin lebende
Altenpflegerin umgebracht haben könnte. Ihr Mann war freiwillig ausgezogen,
nachdem er es nicht mehr bei ihr ausgehalten hatte; die übrige Verwandtschaft
hatte ebenfalls von sich aus den Kontakt mit ihr abgebrochen; und selbst der
Seniorenstiftbewohner, der sie des Diebstahls bezichtigte, hatte von ihr nur
den Ring und das Geld zurückhaben wollen, das sie ihm abgeluchst hatte. Für die
großen Emotionen, für Liebe und Eifersucht und Hass, schien Elvira Platzer kein
geeignetes Objekt gewesen zu sein. Obwohl …
Wie hatte Frieder die auf dem Unterleib der Toten
kreuz und quer verteilten Wunden bezeichnet? Ja, jetzt erinnerte sie sich – als
das Diagramm eines regelrechten Jähzornausbruchs. Das passte nicht zur Habgier
als ausschlaggebendem Mordmotiv, genauso wenig wie es zu dem
kalkuliert-raffinierten Giftmord passte.
Und dann tauchten vor ihrem inneren Auge plötzlich,
sie wusste selbst nicht, warum, die renitente Eva Brunner und der aggressive
Polizeifotograf auf. Beide waren an diesem Tatort eklatant aus ihrer Rolle
gefallen. Die Anwärterin mit der offenen Weigerung, in diese »stinkende«
Wohnung noch einmal zurückzukehren, und auch der sonst so ruhige Bernd
Schuster, der direkt auf sie gewartet zu haben schien, um sich mit ihr anlegen
zu können.
Jetzt, mit dem Abstand von drei Tagen, sah sie bei
diesen Entgleisungen beide Male denselben Auslöser: Abscheu, Ekel. Wenn das
Opfer mit seiner Müllhalde schon bei Polizisten, die von Berufs wegen einiges
gewöhnt waren und die zudem nach kurzer Zeit die Stätte des Grauens wieder
verlassen durften, solche heftige Reaktionen hervorrief, wie mochte das erst
bei jenen ausgesehen haben, die mit dem Messie dauerhaft Tür an Tür leben
mussten? Wie waren eigentlich die anderen Hausbewohner mit der Tatsache
umgegangen, dass sie jemanden wie Elvira Platzer in ihrer direkten Umgebung
hatten? Hass, das war doch in diesem Fall auch ein mögliches, ein gutes Motiv.
Morgen würde sie die Nachbarn danach fragen müssen, aber erst nach absolvierter
Stöberaktion. Wenn sie in der Wohnung das gefunden hatte, was sie zu finden
hoffte.
Froh, Fleischmann doch noch ein zweites Motiv, und
zwar ein sehr emotionales, anbieten zu können, ergänzte sie ihren Bericht
entsprechend. Und sie informierte ihn in einem Postskriptum ausführlich
darüber, dass sowohl sie selbst als auch ihre » MA Brunner« am morgigen Samstag die Ermittlungen bereits in aller Frühe aufnehmen
und das Wochenende über zielgerichtet und mit aller Entschiedenheit
vorantreiben würden. Das sollte ihn in seiner Entscheidung bestärken und ihm
das Gefühl geben, mit der Aufhebung der Suspendierung das einzig Richtige getan
zu haben. Dann sandte sie die Mail ab.
Um kurz vor halb sechs packte sie ihre Sachen und
verließ das Büro. Auf dem Jakobsplatz erwartete sie bereits Paul Zankl. Er trug
einen rot-schwarzen Schal mit dem Aufdruck »Die Legende lebt« um den Hals und
winkte ihr gut gelaunt zu. Da sie noch genug Zeit hatten, kamen sie schnell
überein, zu Fuß zum Hauptbahnhof zu gehen und von dort mit der S-Bahn ins
Frankenstadion zu fahren.
Je näher sie dem Bahnhof kamen, desto höher wurde die
Fan-Dichte. Zwei Farben bestimmten jetzt das Straßenbild. Es schien, als ob
sich am Bahnhofsplatz ein unsichtbarer Magnet befände, der alles, was in Rot
und Schwarz daherkam, in seinen Bann zog.
»Sag mal, müssen wir unbedingt mit der S-Bahn fahren?«
»Ja, es ist der schnellste Weg. Du brauchst keine
Angst zu haben, dass die S-Bahn voll ist. Selbst wenn wir keinen Platz mehr in
der ersten Bahn kriegen, haben wir noch genügend Zeit, um auf die nächste zu
warten.«
Während sie in der überaus vollen S-Bahn stand, in
engem Körperkontakt zu grölenden, betrunkenen und auch schlecht riechenden
Menschen, fasste sie einen Entschluss. Das war das erste und letzte
Fußballspiel, zu dem sie gehen würde. Zumal sie den Eindruck hatte, Paul sah
ihr Entgegenkommen in dieser Sache nicht als das, was es war – ein riesengroßes
Opfer ihm zuliebe.
Als sie in der Schlange mit ihrer Chipkarte in
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