Mord in Dorchester Terrace: Ein Thomas-Pitt-Roman (German Edition)
ob er mit solchem Nachdruck sprach, um andere zu unterhalten oder ihnen Eindruck zu machen, oder ob er von so verzehrender Leidenschaft erfüllt war, dass er sie nicht zu beherrschen vermochte.
»Ja«, bestätigte er. »Sie war sieben Jahre jünger als er. Er hat sich über alle Widerstände hinweggesetzt und es sich nicht ausreden lassen.« Jetzt lag der Ausdruck unverhüllter Bewunderung auf seinen Zügen. »Sie haben geheiratet, und mit einundzwanzig Jahren hat sie ihr drittes Kind bekommen, den einzigen Sohn.«
»Eine bemerkenswerte Mischung aus Unnachgiebigkeit und romantischer Liebe«, sagte sie nachdenklich. »Und sind die beiden miteinander glücklich?«
Sie spürte Pitts Hand auf ihrem Arm, aber es war zu spät, sie hatte es bereits gesagt. Sie sah zu Adriana und erkannte in deren Augen eine Empfindung, die sie nicht zu deuten vermochte, einen sonderbaren Glanz, Qual und etwas, was sie mit aller Macht zu verbergen suchte. Als sie Charlottes Blick auf sich ruhen fühlte, sah sie beiseite.
»Nein«, sagte Blantyre. »Sie hat etwas Bohemienhaftes an sich und ist ziemlich exzentrisch. Sie reist durch die Länder Europas, so oft und so viel sie kann.«
Charlotte wollte etwas Belangloses sagen, um von ihrer unangebrachten Frage abzulenken und die Atmosphäre aufzulockern, doch nahm sie an, dass man die Absicht dahinter merken und sie damit alles nur schlimmer machen würde.
»Vielleicht war es so, dass er sich in einen Traum verliebt hat, den er nicht richtig verstanden hatte«, sagte sie ruhig.
»Wie scharfsinnig und zugleich einfühlsam. Geradezu beunruhigend, Mrs. Pitt«, sagte Blantyre. In seiner Stimme lag nicht Besorgnis, sondern freudige Zustimmung. »Und zugleich so aufrichtig!«
»Vermutlich meinen Sie ›taktlos‹«, sagte sie reumütig. »Es dürfte besser sein, wenn wir uns wieder mit Johann Strauß und seiner Musik beschäftigen. Soweit ich weiß, war auch sein Vater ein berühmter Komponist?«
»Durchaus.« Er holte tief Luft und fügte mit einem etwas bitteren Lächeln hinzu: »Er hat den Radetzky-Marsch komponiert.«
Am anderen Ende des Saals befand sich Victor Narraway, der, nachdem ihn die Königin in den Stand eines Lords erhoben hatte, vor Kurzem eher widerwillig ins Oberhaus eingezogen war. Ein plötzliches Lächeln trat auf seine Züge, als er Lady Vespasia Cumming-Goulds ansichtig wurde. Auch wenn sie inzwischen ein Alter erreicht hatte, das zu nennen die Höflichkeit verbot, sah man ihr nach wie vor die Schönheit an, deretwegen sie einst berühmt gewesen war. In aufrechter Haltung schritt sie mit der Anmut einer Kaiserin, doch ohne jeden Hochmut, einher, wobei die Schleppe ihres Kleides sie nicht im Geringsten behinderte. Ihr silbern glänzendes Haar war ihre Krone, und wie immer war sie mit exquisitem Geschmack gekleidet, ohne sich dem Diktat der Mode zu beugen.
Er sah sie mit freundschaftlichem Wohlwollen an, und sie wandte sich ihm zu, ohne sich von der Stelle zu bewegen. Sie erwartete, dass er auf sie zutrat.
»Guten Abend, Vespasia«, begrüßte er sie voll Wärme. »Dein Kommen lässt mir alle mit dem Besuch einer solchen Veranstaltung verbundenen Trivialitäten der Mühe wert erscheinen.«
»Guten Abend, Euer Lordschaft«, gab sie mit Belustigung in den Augen zurück.
»Bitte nicht.« Mit einem Mal fühlte er sich befangen, was bei ihm nur äußerst selten vorkam. Den größten Teil seines Erwachsenenlebens hindurch hatte er im Hintergrund beträchtliche Macht ausgeübt, erst als Mitarbeiter im Staatsschutz und danach während der vergangenen fünfzehn Jahre als dessen Leiter. Dennoch war es für ihn eine gänzlich neue Erfahrung, dass ihm auf diese Weise in der Gesellschaft Respekt gezollt wurde.
»Daran wirst du dich aber gewöhnen müssen, Victor«, sagte sie freundlich. »Mit einer Erhebung in den Adelsstand gewinnt man eine andere Art von Einfluss.«
»Die Beratungen der Mitglieder des Oberhauses sind vornehmlich Selbstbeweihräucherung. Die wollen hauptsächlich ihre eigene Stimme hören – kein Mensch hört da zu.«
Sie hob die Brauen. »Und das ist dir erst jetzt aufgegangen?«
»Natürlich nicht. Aber jetzt, da niemand mehr verpflichtet ist, mir zuzuhören, fehlt mir der geheuchelte Respekt, vor allem aber das Bewusstsein, eine sinnvolle Aufgabe zu erfüllen.«
Ihm war klar, dass sie den Schmerz in seiner Stimme gehört hatte, obwohl er versucht hatte, ihn durch einen munteren Ton zu kaschieren, und er war nicht sicher, ob er wünschte, sie hätte das
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