Mord in Dorchester Terrace: Ein Thomas-Pitt-Roman (German Edition)
Wahrheit nichts bewirkt hätte.
»Das weiß ich nicht«, sagte sie gelassen. »Es wird sich zeigen.«
KAPITEL 2
Zwei Tage darauf bekam Lady Vespasia die Mitteilung, Serafina Montserrat, eine gute Bekannte aus früheren Zeiten, für die sie voller Bewunderung gewesen war, sei so leidend, dass sie das Bett hüten müsse.
Ein Krankenbesuch war selten einfach, würde aber noch weit schwieriger, wenn beiden Beteiligten bewusst war, dass keine Aussicht auf Gesundung bestand. Was konnte man in einem solchen Fall sagen, was ehrlich gemeint war, ohne damit zugleich Verzweiflung auszudrücken?
Vespasia hatte ein Bad genommen, wobei sie dem Wasser Badesalz mit ihren Lieblingsdüften Lavendel, Rosmarin und Eukalyptus hatte beigeben lassen, weil sie das belebte und anregte. Jetzt saß sie vor dem Spiegel im Ankleidezimmer und ließ sich von ihrer Zofe frisieren. Sie würde ihr anschließend auch helfen müssen, die winzigen Knöpfe an dem Kleid aus indigoblauer Wolle zu schließen, das sie nicht nur wärmte, sondern ihr auch besonders gut stand. Grundsätzlich kleidete sie sich für einen Krankenbesuch ebenso sorgfältig wie für eine Tee- oder Abendgesellschaft.
Sie hatte sich noch nicht überlegt, worüber sie sprechen wollte – sicher nicht über die Gegenwart, die sich für die Kranke so gänzlich anders darstellte als für sie selbst. Da empfahl es sich wohl eher, Erinnerungen an die stürmische und lebenspralle Vergangenheit aufleben zu lassen, auch wenn es darin neben Erfolgen durchaus Fehlschläge gegeben hatte.
Auch die Wahl eines Mitbringsels war gründlich zu bedenken gewesen. Im Februar gab es so gut wie kein Obst, und die Auswahl an Blumen war nicht groß. Die wenigen, die man kaufen konnte, waren im Gewächshaus gezogen worden und hielten selten lange. Dann war ihr eingefallen, dass Serafina immer gutes Konfekt geschätzt hatte, und so lag der Gedanke nahe, ihr sorgfältig ausgewählte und geschmackvoll verpackte belgische Pralinen mitzunehmen.
Flüchtig hatte Vespasia an ein Buch mit Memoiren oder Reisebeschreibungen aus fernen Ländern gedacht, doch wusste sie nicht, ob Serafinas Zustand ihr erlaubte zu lesen. Zwar lebte sie nach wie vor in ihrem Haus in Dorchester Terrace, wo sich außer dem Personal eine Großnichte um sie kümmerte, doch wusste Vespasia nicht, ob es für den Fall, dass sie selbst nicht mehr lesen konnte, jemanden gab, der ihr mit der gebotenen Lebhaftigkeit und Anschaulichkeit vorlesen würde.
»Danke, Gwen«, sagte sie, als die Zofe mit ihrer Frisur fertig war, und erhob sich, um ihr Kleid anzuziehen. Da der Besuch unumgänglich war, empfahl es sich, ihn so bald wie möglich zu machen. Sich lange den Kopf über einen geeigneten Gesprächsgegenstand zu zerbrechen führte zu nichts, und wenn sie die Sache aufschob, würde ihr das hinterher leidtun. Dann würde sie sich Vorwürfe machen, weil sie selbstsüchtig gehandelt und sich gedrückt hatte – Feigheit aber sah sie als eine Schwäche an, die ihr noch mehr zuwider war als alle anderen.
Zwar wehte draußen eine frische Brise, und der Vormittag war kalt, aber glücklicherweise war es bis Dorchester Terrace nicht weit. Vespasias Kutsche wartete bereits vor der Tür. Sie nannte dem Lakaien das Fahrtziel, ließ sich von ihm in den Wagen helfen und setzte sich so bequem hin, wie es ihr bei der Kälte möglich war. Dabei achtete sie sorgfältig darauf, ihre Röcke so um sich herum zu ordnen, dass sie nicht mehr als nötig knitterten. Während sie an den hohen Häusern vorüberfuhr und sah, wie sich die wenigen Menschen auf der Straße gegen den Wind stemmten und den Kopf vor dem einsetzenden Regen senkten, dachte sie daran, wie sie Serafina Montserrat vor nahezu fünfzig Jahren zum ersten Mal begegnet war. Damals hatten auf dem europäischen Kontinent Aufruhr und Wirren geherrscht. Die Revolutionen des Jahres 1848 hatten die Menschen mit so großer Hoffnung erfüllt, dass sie sogar bereit waren, ihr Leben zu opfern, als sich eine Möglichkeit geboten hatte, die von alters her bestehende Tyrannenherrschaft zu brechen. Auch wenn sich diese Aussicht als trügerisch erwiesen hatte – und es vielleicht von Anfang an gewesen war –, hatte sie für kurze Zeit alle mit Leidenschaft erfüllt, bis man die Barrikaden zerstört, die Aufrührer vertrieben, ins Gefängnis geworfen oder hingerichtet hatte und alles wieder in die gewohnten Geleise zurückgekehrt war.
Vespasia war nach England zurückgekehrt, um sich dort in einer erträglichen Ehe
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