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Mord in Dorchester Terrace: Ein Thomas-Pitt-Roman (German Edition)

Mord in Dorchester Terrace: Ein Thomas-Pitt-Roman (German Edition)

Titel: Mord in Dorchester Terrace: Ein Thomas-Pitt-Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Anne Perry
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länger.
    »Macht dir sein Groll gegen Pitt Sorgen?«, fragte er Vespasia.
    Sie zuckte die Achseln so leicht, dass sich die lavendelfarbene Seide ihres Kleides kaum bewegte. »Noch nicht. Wenn er den Thron besteigt, wird er zumindest am Anfang möglicherweise dringendere Sorgen haben.«
    Er unterbrach ihr kurzes Schweigen nicht. Sie standen nebeneinander und sahen dem Farbenwirbel, dem Hin und Her der Gestalten zu, dem Balzen und den Brüskierungen.
    »Ich befürchte, dass sich bei Thomas das Erbarmen gegen die Notwendigkeit zu handeln durchsetzen wird«, sagte sie schließlich. »Er ist nie davor zurückgeschreckt, sich der Wahrheit zu stellen, wie schrecklich, tragisch oder mitunter auch durch Schuldzuweisungen verfälscht sie auch sein mochte. Aber bisher musste er jeweils nur Beweise vorlegen. Künftig wird er unter Umständen den Richter, die Geschworenen und sogar den Henker in einer Person verkörpern müssen. Bei Entscheidungen geht es nicht immer um schwarz oder weiß, und trotzdem müssen sie getroffen werden. An wen kann er sich um Rat wenden, wo findet er jemanden, der alles noch einmal in Gedanken durchgeht, es auf mögliche Fehler prüft, etwas entdeckt, was ihm entgangen sein könnte, und das alles in einem gänzlich anderen Licht darstellt?«
    »Einen solchen Menschen gibt es nicht«, sagte Narraway schlicht. »Meinst du, das sei mir nicht klar? Glaubst du etwa, ich hätte nicht nächtelang wach gelegen, an die Zimmerdecke gestarrt und mich gefragt, ob ich richtig gehandelt oder womöglich jemanden dem Strang ausgeliefert hatte, der vollkommen oder zumindest teilweise unschuldig war, weil ich es mir nicht leisten konnte, länger zu zögern?«
    Sie sah ihn aufmerksam an: die Augen, den Mund, die tief eingegrabenen Linien in seinem Gesicht, die grauen Strähnen in seinem dichten schwarzen Haar.
    »Entschuldige«, sagte sie aufrichtig. »Offenbar hast du diese schwere Bürde so mannhaft getragen, dass mir das nicht hinreichend zu Bewusstsein gekommen ist.«
    Er merkte, dass er errötete. Ein solches Kompliment hatte er von ihr nicht erwartet. Gewöhnlich hatte sie ihn immer recht gut durchschaut. Es beunruhigte ihn ein wenig, wie sehr ihn das Kompliment freute. Das machte ihn verletzlich, und daran war er nicht gewöhnt – außer, wenn es um Charlotte ging, und alle Gedanken an sie musste er sofort wieder in den Hintergrund drängen.
    »Du musst mich für unmenschlich gehalten haben«, sagte er und wünschte im selben Augenblick, nicht so offen gewesen zu sein.
    »Nicht unmenschlich«, sagte sie mit wehmütigem Klang in der Stimme. »Nur weit selbstsicherer, als ich es je war. Das habe ich stets an dir bewundert. Es hat mir Ehrfurcht eingeflößt und auch zu einer gewissen Distanz zwischen dir und mir geführt.«
    Jetzt war er wirklich überrascht. Nie im Leben wäre ihm der Gedanke gekommen, Vespasia hätte jemandem Ehrfurcht entgegenbringen können. Kaiser hatten ihr geschmeichelt, der Zar aller Reußen hatte sie bewundert und halb Europa ihr zu Füßen gelegen.
    »Sei nicht albern«, sagte sie leicht tadelnd, als habe sie seine Gedanken gelesen. »Auf Geburt gründende Vorrechte sind keine Leistung, sondern bedeuten eine Verpflichtung. Ich bewundere Menschen, die es aus eigener Anstrengung an den Platz geschafft haben, wo sie sind, statt durch die Umstände dorthin gestellt worden zu sein.«
    »So wie Pitt?«, fragte er.
    »Eigentlich hatte ich dabei an dich gedacht«, gab sie zurück. »Aber ja, so wie Thomas.«
    »Und hast du dir um mich Sorgen gemacht, als die Macht zu urteilen in meinen Händen lag?«
    »Nein, mein Lieber, denn du bist bis in die Tiefen deiner Seele gepanzert. Du besitzt die Kraft, deine Fehler zu überleben.«
    »Und Pitt?«
    »Ich hoffe es für ihn. Aber ich fürchte, dass das für ihn sehr viel schwerer wird. Er ist idealistischer, als du es je warst, und möglicherweise auch idealistischer als ich. Er besitzt nach wie vor eine Art Unschuld sowie den Mut, an das Gute im Menschen zu glauben.«
    »War es ein Fehler von mir, ihn zu empfehlen?«, fragte er.
    Sie hätte ihm gern eine einfache Antwort darauf gegeben, die ihn hätte beruhigen können. Doch wenn sie ihn jetzt belog, würde zu einer Zeit, da sie unter Umständen dringend aufeinander angewiesen waren, eine Mauer zwischen ihnen stehen. Und ohnehin hatte sie es sich längst abgewöhnt, in wichtigen Angelegenheiten zu lügen. Die Unwahrheit sagte sie nur noch, wenn es um nebensächliche Fragen der Höflichkeit ging und die

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