Mord in Dorchester Terrace: Ein Thomas-Pitt-Roman (German Edition)
Sicherheit oder den Frieden unseres Landes ausgehen könnte«, gab er zurück. Sein Gesicht war jetzt ernst.
Blantyre hob die Brauen. »Selbst wenn sich die betreffenden Personen in Norditalien oder Kroatien befinden? Oder gar in Wien?«
»Sie wissen ebenso gut wie ich, dass das nicht der Fall ist«, teilte ihm Pitt mit, nach wie vor um Verbindlichkeit bemüht, als gehe es um ein unbedeutendes Gesellschaftsspiel. »Ich bin ausschließlich für Vorfälle auf britischem Boden zuständig. Um Dinge außerhalb des Landes kümmert sich Mr. Radley.«
»Ach ja, natürlich«, sagte Blantyre und nickte. »Es muss für Sie eine Herausforderung bedeuten, genau festzustellen, ab wann Sie eingreifen dürfen und von welchem Punkt an Sie das anderen überlassen müssen. Oder bin ich da etwas zu einfältig, und es geht in Wahrheit eher darum, auf welche Weise man etwas tut, als darum, was zu tun ist?«
Pitt lächelte wortlos.
»Führt Ihre Suche nach Informationen Sie auch gelegentlich ins Ausland?«, fuhr Blantyre fort, ohne sich dadurch aus dem Konzept bringen zu lassen. »Wien würde Ihnen gefallen. Der Esprit, die Musik in der Stadt … Dort ist so vieles neu, und unerhörte Vorstellungen fordern Geist und Ohr des Musikhörers heraus. Ich bin überzeugt, dass es dort Musiker gibt, von denen Sie noch nie gehört haben, die Sie jedoch kennenlernen werden. Vor allem aber findet sich dort eine Fülle neuer Gedanken auf den verschiedensten Gebieten: Philosophie, Naturwissenschaften, gesellschaftliche Konventionen, Psychologie – die Grundlagen dafür, wie der Geist des Menschen funktioniert. Dort herrscht ein exzellentes intellektuelles Klima. Ich bin sicher, dass die Vertreter bestimmter Richtungen auf ihrem Gebiet bald die Führung in der Welt übernehmen werden.«
Er zuckte leicht mit den Achseln, als verspotte er sich selbst, um der Intensität seiner Empfindungen die Spitze zu nehmen. »Selbstverständlich hält man dort auch Traditionen lebendig.« Er sah Adriana an. »Weißt du noch, wie wir die ganze Nacht zur Musik von Johann Strauß getanzt haben? Unsere Füße schmerzten, die Morgenröte färbte den Himmel, und trotzdem hätten wir nicht aufgehört, wenn die Kapelle weitergespielt hätte.«
Die Erinnerung daran war in ihren Augen zu erkennen, doch war Charlotte überzeugt, in ihren Tiefen auch einen Schatten zu entdecken.
»Selbstverständlich«, gab Adriana zurück. »Niemand, der in Wien Walzer getanzt hat, vergisst das je.«
Charlotte sah sie an. Die romantische Vorstellung, vor den Augen des Walzerkönigs zu dessen Musik zu tanzen, während er selbst dirigierte, fesselte sie. »Und Strauß selbst hat dirigiert, während Sie tanzten?«, fragte sie.
»Aber ja«, gab Blantyre zurück. »Niemand vermag wie er der Musik einen solchen Zauber zu verleihen. Es ist, als müsse man in alle Ewigkeit weitertanzen. Wir haben den Mond über der Donau aufgehen sehen, die ganze Nacht mit den erstaunlichsten Menschen gesprochen – Fürsten, Philosophen, Wissenschaftlern und Liebespaaren.«
»Sind Sie auch dem Kaiser begegnet?«, fuhr Charlotte fort. »Es heißt, Franz Joseph sei sehr konservativ – stimmt das?« Sie sagte sich, dass sie damit lediglich die Unterhaltung in Gang hielt, doch merkte sie, dass der Traum von ihr Besitz zu ergreifen begann: neue Erfindungen, neue gesellschaftliche Vorstellungen. Sie würde diese Welt zwar selbst nie sehen, aber in Wien schlug, wie er gesagt hatte, das Herz Europas. An jenem Ort entstanden neue Ideen, die sich eines Tages von dort aus durch ganz Europa und darüber hinaus verbreiten würden.
»Ja, ich bin ihm begegnet, und es stimmt«, sagte er mit einem Lächeln, hinter dem die echten Gefühle erkennbar waren, weit stärker, als von bloßen Erinnerungen hervorgerufene Empfindungen. Die von ihm ausgehende Leidenschaft schien die Gegenwart und die Zukunft zu befeuern.
»Ein düsterer Mann, dem der Teufel auf der Schulter sitzt«, gab er zurück und sah sie ebenso aufmerksam an wie sie ihn. »Ein Mann voller Widersprüche. Disziplinierter als jeder, den ich kenne. Er schläft auf einem Feldbett und steht zu nachtschlafender Zeit wieder auf, lange vor Tagesanbruch. Trotzdem hat er sich in jungen Jahren unsterblich in Elisabeth verliebt, die Schwester der Frau, die er nach dem Willen seines Vaters hätte heiraten sollen.«
»Kaiserin Sissi?«, fragte Charlotte noch interessierter als zuvor. Die Lebenskraft, die aus jeder Regung Blantyres sprach, faszinierte sie. Sie wusste nicht,
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