Mord in Dorchester Terrace: Ein Thomas-Pitt-Roman (German Edition)
klugerweise überspielt oder ihn weniger gut gekannt. Andererseits war das tröstliche Bewusstsein der Freundschaft möglicherweise mehr wert als das Einsamkeit vermittelnde Gefühl, nicht verstanden zu werden.
»Du wirst schon eine Aufgabe finden, für die es sich lohnt, etwas aufs Spiel zu setzen«, versicherte sie ihm. »Falls dir nichts dergleichen über den Weg läuft, wirst du von selbst auf eine verfallen. Es gibt in der Welt so viel Dummheit und Ungerechtigkeit, dass es uns beiden für den Rest unseres Lebens reichen dürfte.«
»Soll mich das etwa trösten?«, fragte er und erwiderte ihr Lächeln.
Sie hob die silbergrauen Brauen. »Unbedingt! Wer keinen Lebenszweck hat, ist so gut wie tot, nur ohne den damit einhergehenden Seelenfrieden.« Sie lachte leise, und ihm war klar, dass sie mit einer Leidenschaft hinter diesen Worten stand, die andere besser nicht zu sehen bekamen. Er erinnerte sich daran, dass sie sich in jungen Jahren an den gegen die Unterdrückung der Menschen gerichteten Revolutionen beteiligt hatte, die vor nahezu einem halben Jahrhundert den ganzen europäischen Kontinent erschüttert hatten, nur nicht England. Einige flüchtige Monate hindurch war die Hoffnung auf Demokratie, auf eine neue Rede- und Pressefreiheit hoch aufgeflammt. Menschen waren zusammengekommen, um nächtelang miteinander zu diskutieren, neue Gesetze zu planen, eine Gleichheit, wie es sie nie zuvor gegeben hatte, nur um mit ansehen zu müssen, wie all das im Winde zerstob. In Frankreich, Deutschland, Österreich und Italien war die alte Tyrannei weitergegangen, und es hatte so gut wie keine Veränderungen gegeben. Man hatte die Barrikaden beiseitegefegt, und die Kaiser und Könige hatten erneut auf ihrem Thron Platz genommen.
»Ich habe die Zurechtweisung verdient«, räumte er ein.
»Ich habe mich im Laufe der Zeit daran gewöhnt, dass man mir meine Aufgaben zuwies, ohne dass ich danach zu suchen brauchte.«
»So war es nicht gemeint, mein Lieber«, gab sie zurück.
»Ich wäre dir dankbar, wenn du mir behilflich wärest, etwas zu finden, was zu tun der Mühe wert ist.«
»Unsinn«, sagte sie kaum hörbar und ließ den Blick durch den Saal dorthin schweifen, wo Pitt und Charlotte mit Evan Blantyre sprachen. Als auch er Charlotte sah, stockte ihm einen Augenblick lang der Atem, und es gab ihm einen leisen Stich. Die schmerzlichen Erinnerungen an die mit ihr in Irland verbrachten Tage waren alles andere als verblasst. Ihm war stets deutlich gewesen, dass sie keinen seiner Träume je geteilt hatte. Sie war lediglich mitgekommen, um ihm und damit ihrem Mann zu helfen. Sie liebte Pitt, und daran würde sich nie etwas ändern. »Die Frage, ob Pitt von den Löwen aufgefressen wird, denen man ihn vorgeworfen hat, scheint dich sehr zu beschäftigen«, sagte er und sah Vespasia an.
»Ach je! Bin ich so leicht zu durchschauen?« Sie machte ein bekümmertes Gesicht.
»Es ist nur, weil ich mir deswegen ebenfalls Sorgen mache«, erklärte er und freute sich, dass sie es nicht bestritten hatte. Es sprach für die zwischen ihnen bestehende Freundschaft, dass sie diese Besorgnis zugegeben hatte. Jetzt sah sie ihn so offen an, dass er sie in ihren Augen erkennen konnte.
»Befürchtest du, dass er den Angehörigen der Oberschicht nach wie vor mit der gewohnten Achtung gegenübertritt und sich ihnen sogar dann noch fügt, wenn er sie des Hochverrats verdächtigt?«, fragte er.
»Ganz und gar nicht«, gab sie, ohne im Geringsten zu zögern, zurück. »Er war viel zu lange bei der Polizei, als dass er sich so töricht verhalten könnte. Unsere Schwächen sind ihm nur allzu deutlich bewusst. Hast du die widerliche Geschichte im Buckingham-Palast etwa schon vergessen? Der Thronfolger jedenfalls denkt nach wie vor daran, das kann ich dir versichern. Ohne Königin Victorias Dankbarkeit hätte Pitt nicht seine gegenwärtige Stellung – sondern höchstwahrscheinlich überhaupt keine.«
Beim Gedanken an den Vorfall, auf den sie angespielt hatte, verzog Narraway angewidert den Mund. Ihm war klar, dass Seine königliche Hoheit, der Prinz von Wales, deswegen nach wie vor tiefen Groll gegen Pitt hegte. Weder Nachsicht noch Einsicht war der Grund dafür, dass er nicht gegen ihn vorging, sondern ausschließlich der unerbittliche Wille seiner Mutter und ihre unbeugsame Loyalität Menschen gegenüber, die ihr willig und unter Einsatz des eigenen Lebens dienten. Aber sie war mittlerweile alt, und die Schatten um sie herum wurden immer
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