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Mord in Dorchester Terrace: Ein Thomas-Pitt-Roman (German Edition)

Mord in Dorchester Terrace: Ein Thomas-Pitt-Roman (German Edition)

Titel: Mord in Dorchester Terrace: Ein Thomas-Pitt-Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Anne Perry
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sein. Wie oft mochte er bei ihr gewesen sein? Warum hatte weder seine Frau noch Nerissa Freemarsh davon gesprochen?
    Was Adriana betraf, war die Antwort einfach: Sie hatte es womöglich nicht gewusst.
    In Bezug auf Nerissa Freemarsh lagen die Dinge komplizierter. Ihr mussten seine Besuche bekannt gewesen sein, es sei denn, er wäre immer gerade dann gekommen, wenn sie nicht im Hause war, möglicherweise nachmittags. Vermutlich aber hatte sie davon gewusst und es Pitt mit Absicht verschwiegen. Warum? Aus Selbstschutz, weil sie ihn eingelassen hatte, damit er unter vier Augen mit ihrer Großtante sprechen konnte? Wohl eher, um zu verhindern, dass man ihn verdächtigte. Hatte er das womöglich von ihr verlangt? Der wahrscheinlichste Grund dafür war wohl, dass er ihr Liebhaber war.
    Doch was um Himmels willen konnte der charmante Blantyre, ein brillanter Kopf, in einer Frau ihres Schlages sehen? Damit stellte sich zugleich die Frage, was man überhaupt in einem anderen Menschen sah. Wenn man nähere Kenntnis von dessen Seele oder Verstand erlangt hatte, spielte die äußere Erscheinung keine große Rolle mehr. Da gab es eine ganze Reihe von Möglichkeiten: Vielleicht war sie großzügig, leicht zu befriedigen und unkritisch, oder sie hörte ihm mit ungeheucheltem Interesse zu, lachte über seine Späße, widersprach ihm nie und verglich ihn auch nie mit anderen. Ohne Weiteres war es aber auch denkbar, dass sie ihn bedingungslos liebte und als einzige Gegenleistung erwartete, dass er ihr ein wenig Zeit widmete, gut zu ihr war oder zumindest so tat. Vielleicht aber hatte er sich ihr auch zugewandt, weil ihm die schöne Adriana zu anspruchsvoll war?
    Immer heftiger prasselte der Regen gegen die Scheibe. Allmählich wurde es draußen dunkel. Das rhythmische Geräusch der Räder wirkte einschläfernd.
    Höchstwahrscheinlich war Blantyre einmal gemeinsam mit seiner Frau ins Haus gekommen, hatte begriffen, wie gefährlich ihm Serafinas wirre Reden werden konnten, und dafür gesorgt, dass er eine Möglichkeit zu wiederholten Besuchen bekam, damit er feststellen konnte, wie groß die Gefahr war, dass sie etwas ausplauderte.
    Dann kam Pitt ein neuer und noch erschreckenderer Gedanke. Was, wenn Blantyre von Mrs. Montserrat weitere Geheimnisse über bestimmte andere Tatbestände erfahren hatte? Dann befand er sich jetzt womöglich im Besitz all jener Geheimnisse, die unabsichtlich preiszugeben diese stets befürchtet hatte, der Namen von Männern und Frauen in halb Europa, die Kenntnis von verfänglichen Situationen aus den letzten vierzig Jahren hatten.
    Das meiste davon dürfte unerheblich sein: heimliche Liebschaften, außerhalb der Ehe gezeugte Kinder, Untreue, unter Umständen aber auch Fälle von Diebstahl oder Unterschlagung, Ämterkauf, Erpressung, Nötigung und Gewaltexzess. Die Liste der Möglichkeiten war nahezu endlos, und über die Hälfte der Betroffenen dürfte längst nicht mehr leben. Mithin spielten für diese Menschen Ämter, Liebe und Geld keine Rolle mehr. Aber auch gewisse Erinnerungen konnten nach wie vor andere verletzen und bloßstellen.
    Welchen Gebrauch würde Blantyre von diesem Wissen machen? So beunruhigend die Vorstellung war, die Sache würde warten müssen, bis Herzog Alois sicher ins Land gelangt und wieder abgereist war.
    Hatte Blantyre sein Wissen über den geplanten Anschlag auf diesem Wege erlangt? Das hielt Pitt für unmöglich. Mrs. Montserrat war seit einem halben Jahr bettlägerig gewesen, und die Zeit, in der sie in England oder Österreich in Staatsaffären verwickelt gewesen war, lag in der fernen Vergangenheit. Die meisten Menschen, die sie damals gekannt hatte, waren nicht mehr im Amt oder tot.
    War es denkbar, dass zwischen einem von ihnen und Herzog Alois eine Verbindung bestand? Pitt hielt diesen Gedanken für an den Haaren herbeigezogen. Er glaubte nicht an Zufälle. Diese Lehre hatte er bereits aus seiner Arbeit bei der Polizei gezogen, lange bevor er in den Staatsschutz eingetreten war. Andererseits erschien es ihm aber auch töricht, anzunehmen, alles stehe mit allem in Verbindung, oder in Ereignissen allein deshalb Ursache und Wirkung zu sehen, weil sie in zeitlicher Nähe zueinander stattfanden.
    Er lehnte sich zurück und ließ sich von den Geräuschen und Bewegungen des Zuges noch einen Moment einlullen, bis sie ihren Zielbahnhof in London erreichten.
    Charlotte hatte das Feuer im Wohnzimmer in Gang gehalten, wo sie auf ihn gewartet hatte. Sie setzte den Kessel auf, und

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