Mord in Dorchester Terrace: Ein Thomas-Pitt-Roman (German Edition)
das Toben des Windes und die Wolkenmuster über dem Marschland. »Sie sind alle tot.«
»Wirklich?«, fragte Pitt. »Sind Sie sicher?«
»Ich denke schon. Schließlich ist das lange her. Solche Leute sind mutig und hoffnungsvoll, voll Leben und Leidenschaft, und sie brennen rasch aus.«
»Serafina ist erst kürzlich gestorben«, teilte Pitt ihm mit.
Der Mann lächelte. »Ach ja … Serafina. Gott schenke ihr die ewige Ruhe.« Während die Erinnerung Bilder in ihm heraufbeschwor, konnte man sich einen Augenblick lang vorstellen, wie er als junger Mann ausgesehen hatte.
»Sie wurde ermordet«, sagte Pitt. Er kam sich grausam vor, weil er den Kummer in der Stimme des alten Mannes gehört hatte.
»Sind Sie deshalb gekommen?« Das war ein Vorwurf. »Ein englischer Polizist, der den Auftrag hat, einen Mordfall aufzuklären?«
»Einen Mordfall aufzuklären – oder zwei Todesfälle, wenn Sie so wollen. Vor allem aber geht es darum, einen weiteren Mord zu verhindern, den man angekündigt hat«, korrigierte ihn Pitt. »Wer hat Lazar Dragovic verraten?«
»Wer ist noch tot?«
»Adriana Dragovic.«
Tränen traten jetzt in die Augen des Alten und liefen ihm über die welken Wangen. »Das arme Kind«, flüsterte er. »Das arme kleine Kind.«
»Sie war eine erwachsene Frau«, sagte Pitt freundlich und empfand selbst tiefe Trauer. Er dachte an sie und sah sie in all ihrer Schönheit und Zerbrechlichkeit vor seinem inneren Auge. Vielleicht aber war sie weit stärker gewesen, als Blantyre angenommen hatte. Oder doch nicht? Hatte sie Serafina nach all diesen Jahren getötet? Warum zweifelte er noch daran? Alle Beweise lagen auf der Hand. Lediglich sein Empfinden ließ ihn zögern, diese Schlussfolgerung zu akzeptieren.
Der Italiener zwinkerte. »Sie meinen, sie starb erst jetzt? Wann denn?«
»Vor ein paar Tagen.«
»Und wie? War sie leidend? Als Kind hat sie gekränkelt. Ich glaube, es waren Lungengeschichten. Aber …« Er seufzte. »Ich hatte gehofft, dass sie am Leben bleiben würde. Wünschen ist leicht. Aber Sie haben gesagt, vor ein paar Tagen. War es immer noch ihre Lungengeschichte?«
»Nein. Sie hat Selbstmord begangen, und ich möchte herausbekommen, warum.«
Der Alte zwinkerte erneut. »Was könnte ich Ihnen nach all dieser Zeit sagen, was noch von Nutzen wäre? Es ist so lange her. Dragovic ist tot, wie auch alle anderen, die mit ihm gekämpft haben. Und jetzt kommen Sie und sagen, dass auch Serafina und Adriana tot sind. Was von dem, was ich weiß, könnte jetzt noch eine Rolle spielen?«
»Wer hat Dragovic verraten?«, fragte Pitt erneut.
»Glauben Sie wirklich, dass der Betreffende noch am Leben wäre, wenn ich das wüsste?« Die Stimme des Alten zitterte vor Wut, während ihm Tränen über das zerknitterte Gesicht liefen.
»Wusste Serafina es?«, ließ Pitt nicht locker. Immerhin bestand eine winzige Möglichkeit, dass die Sache von Bedeutung war.
Das Schweigen im Raum dauerte eine ganze Weile an. Wieder jagten Wolken einander über das Marschland. Man konnte sehen, wie sie sich im Westen ballten. Es würde noch vor Son nenuntergang erneut regnen.
Pitt wartete.
»Ich bin nicht sicher«, sagte der Alte schließlich. »Anfangs hatte ich das nicht angenommen, habe mich aber später dann doch gefragt.«
»Hatten die beiden nicht ein Liebesverhältnis?«
»Ja. Deswegen hatte ich ja ursprünglich angenommen, dass sie nicht wusste, wer es war, denn sonst hätte sie ihn mit Sicherheit umgebracht. Nach Lazars Ermordung ist sie vor Kummer vergangen. Nur wenige haben das gemerkt, aber es war deutlich, dass sie gelitten hat. Ich bin nicht sicher, ob diese innere Wunde je verheilt ist.«
»Und das wissen Sie genau?« Pitt musste der Sache weiter nachgehen, doch je mehr er erfuhr, desto unwohler wurde ihm bei dem Ganzen.
»Selbstverständlich. Ich habe Serafina gekannt.« Jetzt lag Zorn in der Stimme des Mannes; er fühlte sich herausgefordert.
Pitt überlegte, wie gut er sie gekannt haben mochte. War auch er einer ihrer Liebhaber gewesen? Hatte der Verrat an Dragovic möglicherweise gar nichts mit Politik zu tun, sondern ging auf ein altmodisches Dreieck aus Liebe und Eifersucht zurück?
»Haben Sie sie gut gekannt?«, fragte er.
Der Alte lächelte und zeigte erneut seine prachtvollen Zähne. »Sogar sehr gut. Bevor Sie mich fragen – ja, wir waren ein Liebespaar, bevor sie sich Dragovic zugewandt hat. Sie würden meine Ehre kränken, wenn Sie jetzt annähmen, dass ich aus persönlichen Gründen zum
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