Mord in Dorchester Terrace: Ein Thomas-Pitt-Roman (German Edition)
sogar das Leben anderer Menschen.«
»Wessen?«, fragte sie zurück. »Blantyres?«
»Unter anderem. Aber nicht in erster Linie. Es geht um Menschen, von denen du die meisten nicht einmal kennst.« Er machte eine leichte, bedauernde Geste. »Und übrigens auch um meine Stellung.«
Der letzte Rest von Belustigung oder Abwehr wich aus ihrem Gesicht. Mit ernstem und festem Blick sagte sie: »Ich glaube, sie war bei Weitem nicht so zerbrechlich, wie wir angenommen haben. Sie hat entsetzlich gelitten, als sie im Alter von acht Jahren mit ansehen musste, wie man ihren Vater erst misshandelt und dann erschossen hat. Aber viele Menschen werden Zeugen abscheulicher Taten. Es ist quälend, man vergisst das nie, aber es bringt einen nicht aus dem seelischen Gleichgewicht. Mag sein, dass man in einer solchen Situation an Albträumen leidet. Ich hatte selbst schon gelegentlich welche. Manchmal, wenn ich schlecht schlafe, mir Sorgen mache oder Angst habe, erinnere ich mich an die Toten, die ich im Laufe meines Lebens gesehen habe.«
Sie sah ihm nach wie vor unverwandt in die Augen, und er erkannte, wie ihr plötzlich die Erinnerung kam. »Zu den schlimmsten gehörte das Skelett der Frau auf der Schaukel, in dem man die winzigen Knochen des ungeborenen Kindes sehen konnte. Das Bild tritt mir auch heute noch gelegentlich vor Augen, und ich habe dann das Bedürfnis zu weinen, bis mich die Kräfte verlassen. Aber ich tue es nicht. Ich habe sie nicht gekannt, für mich ist sie irgendeine beliebige Frau: glücklich, gläubig, den Blick in die Zukunft gerichtet, ein Mensch, der zu schützen versucht hat, was an ihm kostbar und verletzlich war.«
Er hatte den Impuls, sie zärtlich zu berühren, unterließ es aber. Das war nicht der richtige Augenblick. »Adriana?«, fragte er erneut.
»Sie war nicht hysterisch«, sagte sie mit Überzeugung in der Stimme. »Ich kann mir nicht vorstellen, dass sie sich je selbst das Leben genommen hätte. Wer hat sie umgebracht, Thomas? Und warum gerade zu dem Zeitpunkt? War das womöglich derselbe Mensch, der ihren Vater ans Messer geliefert hat? Hat Serafina ihn gekannt? Bestimmt. Deswegen hat man auch sie umgebracht. Nur das ergäbe einen Sinn.«
»Das nehme ich auch an.« Sollte er es ihr sagen? Musste sie es um ihrer eigenen Sicherheit willen wissen? Oder wäre sie gerade dann gefährdet? Selbst wenn er es ihr nicht sagte, würde Blantyre annehmen, dass er es getan hatte.
»Er war es, nicht wahr?«, drang ihre Stimme in seine Überlegungen.
»Wen meinst du?«
»Blantyre!«, sagte sie in scharfem Ton. »Er kommt als Einziger dafür infrage: Erst hat er Adrianas Vater an die Österreicher verraten, später hat er Mrs. Montserrat vergiftet, und jetzt hat er seine Frau getötet.« Aus ihrem Mund klang das so einfach. »Thomas, es ist mir einerlei, was für Geheimnisse er kennt oder ein wie hohes Amt er bekleidet – du darfst ihm das nicht durchgehen lassen! Es ist … ungeheuerlich! Wenn wir so etwas ohne Not zulassen, inwiefern sind wir dann besser als solche Menschen?«
»Du möchtest Rache?«, fragte er mit einem so verzerrten Lächeln, dass es ihn selbst schmerzte.
»Vielleicht. Ja – ich möchte Rache für Adriana! Aber auch für Serafina. Sie hatte einen besseren Tod als diesen verdient! Von mir aus kannst du es aber auch Gerechtigkeit nennen, denn das ist es – und du fühlst dich dann auch besser.«
»Alle Welt nennt es Gerechtigkeit«, erwiderte er.
»Es ist eine Notwendigkeit. Unmöglich darf so jemand ein hohes Regierungsamt bekleiden. Solche Leute könnten sonst etwas tun.«
»So ist es. Wahrscheinlich tun sie es sogar. Für einen Teil davon werden sie gefeiert, und bei anderen Dingen sind wir alle froh, dass wir nichts davon wissen.«
Sie sagte nichts darauf. Er sah zu ihr hinüber, konnte ihrem Gesichtsausdruck aber nicht entnehmen, was sie dachte.
Gleich am nächsten Morgen suchte er Lady Vespasia auf. Zwar war es für einen Besuch viel zu früh, aber angesichts der Umstände pfiff er auf die gesellschaftliche Konvention und teilte dem Mädchen, das ihm öffnete, mit, es sei dringend. Sie hatte sich inzwischen an ihn wie auch an seine auf Hochglanz polierten Halbstiefel und schief sitzenden Krawatten gewöhnt, vor aber allem daran, dass ihre Herrin jederzeit bereit war, ihn zu empfangen.
Er fand Lady Vespasia im Frühstückszimmer. Auf dem Tisch aus Nussbaumholz standen Tee, Toast und Orangenkonfitüre. Das Mädchen legte ein zweites Gedeck auf und ging, um frischen Tee
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