Mord in Dorchester Terrace: Ein Thomas-Pitt-Roman (German Edition)
Verräter an der Sache geworden wäre. Die Sache kommt immer zuerst.«
»Für jeden?«
»Unbedingt. Für jeden!« Erneut flammte Zorn in seinen Augen auf. Er richtete sich gegen Pitt, weil dieser jung war und nichts von ihrer einstigen Leidenschaft und ihren Verlusten wusste.
»In dem Fall muss derjenige, der Dragovic verraten hat, innerlich für eine andere Sache eingetreten sein«, formulierte Pitt die einzig mögliche Schlussfolgerung.
Der Alte nickte bedächtig. »Ja, so muss es wohl gewesen sein.«
»Und welchen Grund hätte Serafina haben können, ihn nicht zu entlarven, wenn sie gewusst hat, um wen es sich handelte?«
»Sie hätte ihn entlarvt. Sie kann es nicht gewusst haben. Ich habe mich wohl geirrt.«
»Wann glaubten Sie denn, dass sie es erfahren haben könnte?«
»Nun … zehn, vielleicht fünfzehn Jahre später.«
»Und wie hätte sie das nach so langer Zeit herausbekommen sollen?«
»Das habe ich mich auch gefragt. Ich weiß es nicht.«
»Sind Sie sicher, dass sie es nicht selbst gewesen sein könnte?« Es war Pitt zuwider, diese Frage stellen zu müssen, aber es ließ sich nicht länger vermeiden.
»Serafina?« Der Alte war entsetzt. Erneut packte ihn die Wut, und er setzte sich aufrechter hin. »Nie im Leben.«
»Dann muss es jemand gewesen sein, den sie geliebt hat.« Das war der nächstliegende Schluss.
»Nein. Männer sind bei ihr gekommen und gegangen. Das hätte sie keinem verziehen!« Seine Stimme war kräftig, voll Wut und schneidender Verachtung. Pitt konnte sich gut vorstellen, wie er als junger Mann gewesen war: schlank und drahtig, gut aussehend, voll Leidenschaft.
»Sind Sie sicher?«, bohrte er nach.
»Ja. Der einzige Mensch, den sie immer geliebt hat, war Lazars Tochter Adriana.«
Sie war erst acht Jahre alt gewesen, als man ihren Vater getötet hatte, und konnte ihn unmöglich verraten haben. Oder ob sie versehentlich etwas gesagt hatte? Der Gedanke war so überwältigend, die darin liegende Schuld so verheerend, dass Pitt es nicht über sich brachte, die Frage zu stellen. Ob Blantyre versucht hatte, sie vor dieser entsetzlichen Erkenntnis zu bewahren? Sofern Serafina das im Zuge ihrer wirren Reden herausgerutscht war, wäre es nur allzu verständlich gewesen, dass Adriana nach Hause gegangen war und sich selbst den Tod gegeben hatte.
Doch die zeitliche Abfolge ergab keinen Sinn. Bestimmt hätte sie das gleich am nächsten Tag getan und nicht erst mehrere Tage später. Außerdem erhob sich dann die Frage, warum sie Serafina getötet haben sollte.
Der Alte musterte aufmerksam Pitts Züge. »Was ist?«, fragte er besorgt. »Wissen Sie etwas?«
»Nein. Was mir da gerade durch den Kopf geht, ergibt weder in Bezug auf Serafinas noch auf Adrianas Tod einen Sinn. Serafina hat den Täter mit Sicherheit gekannt, und man hat sie umgebracht, um zu verhindern, dass sie dieses Wissen an Dritte weitergab.«
»Und warum hätte sich das Kind – die Frau – dann jetzt das Leben nehmen sollen?«, fragte der Alte. »Doch höchs tens, wenn sie Serafina umgebracht hätte, um sie zum Schweigen zu bringen. Aber warum hätte sie das tun sollen? Doch nur, wenn sie den Betreffenden hätte decken wollen – und auch das ergibt keinen Sinn.«
»Es sei denn, dass sie damit ihren Mann schützen wollte.« Die Worte waren Pitt entfahren, bevor er sich ihrer vollständigen Tragweite bewusst geworden war.
»Ihren Mann?«, fragte der Alte entsetzt. »Sprechen Sie von Evan Blantyre?«
Pitt sah ihn an und betrachtete aufmerksam die zerknitterte Haut, die tiefen Falten, die kräftigen Wangenknochen. Auf seine Weise war es ein schönes Gesicht. »Ja – von eben dem.«
Der Alte bekreuzigte sich. »Ja dann … Gott verzeih uns allen, das ergäbe in der Tat einen Sinn. Das dürfte der Grund dafür gewesen sein, dass Serafina nie darüber gesprochen hat. Sie hat es erst später erfahren, als Blantyre zurückkam und Adriana den Hof machte. Da hat er sich wohl verplappert, und Serafina hat das richtig eingeordnet. Er hat pausenlos große Reden über die Bedeutung des Friedens im Inneren des Habsburgerreiches geschwungen: Es halte Europa zusammen, nachdem Italien geeinigt und unabhängig und das Deutsche Reich erstarkt sei. Aber vielleicht war das schon immer seine Überzeugung gewesen. Jedenfalls hat Serafina dann begriffen, was er getan hatte.«
»Und trotzdem hat sie zugelassen, dass Adriana ihn heiratete?«, fragte Pitt ungläubig.
»Wie hätte sie das verhindern sollen? Die beiden hatten sich
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