Mord in Dorchester Terrace: Ein Thomas-Pitt-Roman (German Edition)
leidenschaftlich ineinander verliebt. Adriana war schön, besaß aber weder Geld noch eine gesellschaftliche Stellung. Sie war die verwaiste Tochter eines Verräters am Reich, den man als Verbrecher ohne Gerichtsverfahren an Ort und Stelle erschossen hatte. Serafina besaß keinerlei Beweise, hatte lediglich ihre innere Überzeugung.« Er zuckte mit den schmalen Schultern. »Außerdem hätte auch ein Beweis nicht den geringsten Unterschied gemacht, sondern lediglich bewirkt, dass der Kaiser Blantyre als Helden hingestellt hätte. Nein, sie hat die Sache wohl für sich behalten, um Adrianas Glück nicht im Weg zu stehen. Die junge Frau war von zarter Gesundheit und brauchte jemanden, der die nötigen Mittel besaß, sich um sie zu kümmern und dafür zu sorgen, dass sie gesund wurde. Wäre sie arm geblieben, hätte sie früh sterben müssen und überdies allein. Serafina hatte nie eigene Kinder. Adriana war alles, was ihr von dem Mann geblieben war, den sie geliebt hatte.«
Pitt versuchte sich vorzustellen, wie Serafina der Hochzeit des Mannes zugesehen hatte, der den Vater seiner Braut einem schmählichen Tod ausgeliefert hatte, den Mann, den Serafina so sehr geliebt hatte. Vielleicht war das der springende Punkt: die Tiefe wirklicher Liebe, die stärker war als das Streben nach Rache und unendlich viel selbstloser als das Bedürfnis, zu hassen, oder auch nur der Wunsch, der Gerechtigkeit zum Sieg zu verhelfen. Pitt empfand einen Schmerz in seiner Brust, seine Kehle schnürte sich beim Anblick der Tränen auf dem Gesicht des Alten zusammen.
Jetzt schlugen die ersten Regentropfen gegen die Fensterscheiben.
Sofern Blantyre tatsächlich Lazar Dragovic an die Österreicher verraten und Serafina das gewusst hatte, war es durchaus möglich, dass sie unabsichtlich etwas preisgegeben hatte, woraus Adriana die Wahrheit hatte entnehmen können. Ob sie ihren Mann damit konfrontiert hatte, woraufhin dieser sie getötet hatte? Sofern er selbst überleben wollte, wäre ihm wohl nichts anderes übrig geblieben.
Nein, auch hier stimmte der zeitliche Ablauf nicht. Mrs. Montserrat hatte befürchtet, etwas zu sagen, was früher oder später die Wahrheit ans Licht bringen würde. Das ergab einen Sinn. Aber auch Blantyre musste diese Befürchtung gehabt haben und hatte sie getötet, um das zu verhindern. Als seine Frau dann erfahren hatte, dass Serafina ermordet worden war und sie damit rechnen musste, von den Behörden der Tat bezichtigt zu werden, hatte sie sich das Leben genommen, nicht aus Schuldbewusstsein, sondern aus Verzweiflung.
Ebenso gut aber war denkbar gewesen, dass sie – in Kenntnis der Liebe, die ihr Serafina stets erwiesen hatte – aus allem, was diese gesagt hatte, den richtigen Schluss ziehen würde. Weil Blantyre diese Möglichkeit bewusst war, hatte er sie trotz allem Schmerz, den ihm das verursachte, getötet, um sich selbst zu schützen. Ja, so musste es gewesen sein.
Jetzt, da alles zueinanderpasste, erkannte Pitt den tieferen Sinn, begriff die Leidenschaftlichkeit, verstand, warum Blantyre ihm und Charlotte mit solchem Nachdruck dargelegt hatte, wie entscheidend die Rolle des Habsburgerreiches in der europäischen Politik sei.
Hatte er damit recht? War der Fortbestand der Donaumonarchie als ungeteiltes Ganzes tatsächlich unerlässlich, damit in Europa ein dauerhafter Frieden gewährleistet war? Möglicherweise.
Doch selbst wenn dem so war, war das keine Entschuldigung für den Mord an Serafina Montserrat und erst recht nicht für den an seiner eigenen Frau.
Pitt erhob sich. »Danke, Sir«, sagte er mit ernster Stimme. »Sie haben mit Ihren Worten den Namen zweier Frauen, die man ermordet und verleumdet hat, von jedem Makel befreit. Ich werde alles tun, was ich kann, um dafür zu sorgen, dass dieses Unrecht aus der Welt geschafft wird. Es kann allerdings sein, dass es bis dahin eine Weile dauert. Glauben Sie mir, ich werde es weder vergessen noch in meinen Bemühungen nachlassen.«
Der Alte nickte bedächtig. »Gut«, sagte er befriedigt. »Gut.«
Auf der Rückfahrt sah Pitt zum Fenster hinaus, obwohl heftiger Regen über die Scheibe lief und sich kaum etwas erkennen ließ. Er achtete nicht auf die beiden anderen Männer im Abteil, die Zeitung lasen.
Falls Blantyre Mrs. Montserrat aufgesucht und ihr lange genug zugehört hatte, um zu erkennen, dass sie wirr redete und von Zeit zu Zeit lichte Momente hatte, konnte er nicht nur einige Minuten bei ihr verbracht haben – es mussten eher Stunden gewesen
Weitere Kostenlose Bücher