Mord in Dorchester Terrace: Ein Thomas-Pitt-Roman (German Edition)
müssen, aber es haben sich einige neue Gesichtspunkte ergeben, sodass ich Ihnen noch weitere Fragen stellen muss.«
Sie wirkte ruhiger als bei den vorigen Malen. Kein Hinweis auf Besorgnis trat bei seinen Worten auf ihre Züge. Sie blieb mit vor dem Leib gefalteten Händen stehen und sagte: »Ach ja? Mir ist bekannt, dass sich Mrs. Blantyre das Leben genommen hat. Wirklich tragisch und, wie es aussieht, doch unausweichlich. Wahrscheinlich hat sie vermutet, dass meine Tante die Schuld am Tod ihres Vaters oder zumindest daran hatte, dass ihn die Österreicher als Aufständischen gefasst und hingerichtet haben. Auch ihre seelische …«, sie suchte nach dem passenden Ausdruck, der zugleich treffend, aber nicht übermäßig grausam war, »Labilität war mir bewusst, ohne dass mir deren Ausmaß klar war. Das Ganze tut mir schrecklich leid. Ich weiß, dass Selbstmord eine Sünde ist, aber unter den gegebenen Umständen ist es vielleicht besser, dass sie sich selbst gerichtet hat, statt sich einer Festnahme, einer Verhandlung und der damit verbundenen öffentlichen Schande stellen zu müssen.« Ihre Gesichtszüge spannten sich an. »Möglicherweise hätte man sie ja auch ins Irrenhaus gesperrt oder sogar aufgehängt. Ja, ich … ich kann ihr meine Achtung dafür nicht versagen. Das arme Geschöpf.«
Pitt sah sie mit einer Mischung aus Mitleid, Abscheu und Widerwillen an. War ihr bewusst, dass Blantyre nicht nur Lazar Dragovic verraten, sondern auch Mrs. Montserrat und anschließend seine eigene Gattin ermordet hatte? Hatte sie, eine Frau, die sich in den Mann einer anderen verliebt hatte, das Gespräch ihrer Großtante mit ihm belauscht, wenn sie nicht sogar dabei gewesen war, ohne zu wissen, worum es ging? Er hätte es nicht zu sagen vermocht.
»Bitte nehmen Sie doch Platz, Miss Freemarsh. Ich fürchte, die Dinge liegen nicht so einfach, wie Sie zu glauben scheinen.«
Sie setzte sich hin, die Hände sittsam im Schoß gefaltet, und er nahm erneut im Sessel der Haushälterin Platz.
»Sie haben doch nicht die Absicht, die Sache an die Öffentlichkeit zu bringen?«, fragte sie entsetzt. »Das kann unmöglich im Interesse der Regierung liegen. Es ist einfach die Tragödie einer Frau, die als Kind gelitten und sich nie davon erholt hat.« Erneut spannten sich ihre Gesichtszüge an. »Damit würden Sie ihren Gatten in eine peinliche Lage bringen und einer Schande aussetzen, die er nicht verdient hat. Was wäre überhaupt damit erreicht? Sagen Sie mir ja nicht, dass es um Gerechtigkeit geht. Das ist völliger Unsinn und wäre der Gipfel der Heuchelei. Meine Tante war die Ursache für den Tod des Vaters der kleinen Adriana, ganz gleich, ob das politisch gerechtfertigt war oder nicht, und deshalb war die spätere Mrs. Blantyre schon als kleines Mädchen gestört. Ich glaube, sie war sogar dabei und hat die ganze grässliche Geschichte mit ansehen müssen. Wer der Verräter war, hat sie erst erfahren, als sich Tante Serafinas Geist umdüstert und sie sich in ihren wirren Reden selbst verraten hat. In einem Racheanfall hat sie meine Tante umgebracht und sich dann, als ihr klarwurde, was sie getan hatte, das Leben genommen. Damit ist der Gerechtigkeit mehr als Genüge getan.«
Er sah sie an und überlegte, was sie davon tatsächlich glaubte und was sie sich eingeredet hatte, weil sie auf diese Rechtfertigung angewiesen war.
»Sind Sie sich da sicher?«, fragte er, als suche er selbst nach Beweisen.
»Ganz und gar. Und wenn Sie es recht bedenken, werden Sie merken, dass es durchaus einen Sinn ergibt.« Er konnte an ihr nicht den geringsten Zweifel und keinerlei Unbehagen erkennen, aber auch keinen Hinweis auf wirkliches Mitgefühl. Offensichtlich konnte oder wollte sie sich nicht in Adrianas Situation hineinversetzen.
»Wann hat Mrs. Montserrat denn zu Ihnen über das Ende von Lazar Dragovic gesprochen?«, fragte er wie beiläufig. »Und wann ist Ihnen bewusst geworden, dass er Adriana Blantyres Vater war?«
Nerissa sah ihn verblüfft an. »Wie bitte?«
Sie versuchte sichtlich, Zeit zu gewinnen, um zu erkennen, worauf er hinauswollte, damit sie sich überlegen konnte, wie sie darauf reagieren sollte.
»Sie haben eben selbst gesagt, dass Sie über die Sache mit Dragovic informiert waren und Adriana Blantyre als Achtjährige mit ansehen musste, wie man ihn misshandelt und gleich darauf erschossen hat«, erklärte er. »Jemand muss Ihnen das gesagt haben. Das ist nirgendwo schriftlich verzeichnet, sonst hätte Adriana Blantyre
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