Mord in Dorchester Terrace: Ein Thomas-Pitt-Roman (German Edition)
Zeit von vor dreißig Jahren suchen sollen? Das ist doch absurd!« Sie lachte verächtlich auf. »Selbst wenn ihr das gelungen wäre, hätte Tante Serafina bei ihrer Rückkehr schon tot sein können«, fügte sie hinzu.
»Genau«, gab er ihr recht. »Es kann niemanden befriedigen, einen Menschen zu töten, der ohnehin bald sterben wird.«
Ihre Pupillen waren jetzt so winzig wie Stecknadelköpfe. »Und warum führen wir dann diese überflüssige Unterhaltung?«
»Der Einfall stammt von Ihnen, Miss Freemarsh. Ich wäre nicht auf den Gedanken gekommen, dass sie nach Kroatien oder sonstwohin reisen sollte. Es hätte genügt, nach Hause zu gehen.«
Voll beißendem Spott fragte sie: »Wie bitte?«
»Ich will damit sagen, dass sie ihren Mann hätte fragen können«, erklärte er. »Immerhin hatte er damals mit den Aufrührern zu tun. Er hat zu ihnen gehört oder, besser gesagt, ihnen das vorgegaukelt. Ich nehme an, dass er in Wahrheit stets der Sache der Einheit und der Vorherrschaft des Hauses Habsburg in all seinen Ländern treu gedient hat.«
Sie sagte nichts.
»Ich an ihrer Stelle wäre einfach nach Hause gegangen und hätte ihn gefragt. Sie etwa nicht?«, setzte er nach.
Sie sah ihn stumm und wütend an, als verdiene seine Frage keine Antwort.
»Es sei denn, Ihrer Großtante wären einige verräterische Worte entschlüpft«, fuhr er erbarmungslos fort. »Auf jeden Fall hatte nicht sie Dragovic ans Messer geliefert. Warum hätte sie das tun sollen? Sie hatte stets zu den Aufrührern gehört, für die Freiheit gekämpft – wenn nicht für die Kroatiens, dann für die jenen Teils von Norditalien, der unter österreichischer Herrschaft stand.«
Mit belegter Stimme fragte sie: »Worauf wollen Sie eigentlich hinaus?«
»Darauf, dass nicht Ihre Großtante den Verrat begangen hat, sondern Evan Blantyre, und dass seine Gattin das herausbekommen hat.«
Sie gab sich große Mühe, diese Wahrheit von sich zu schieben. »Das ergibt doch gar keinen Sinn!«, sagte sie in scharfem Ton. »Wie können Sie es wagen, so etwas zu behaupten? Falls Tante Serafina das gewusst oder auch nur geglaubt hat – warum hatte sie das dann nicht längst gesagt? Warum hat sie überhaupt zugelassen, dass Adriana ihn heiratet?«
»Das habe ich mich auch gefragt«, gab Pitt zu. »Dann ist mir aufgegangen, dass Adriana in jungen Jahren zwar schön war, aber arm, die verwaiste Tochter eines Mannes, der dadurch entehrt war, dass ihn die Österreicher ohne Gerichtsverfahren erschossen hatten. Außerdem war sie nicht gesund und würde möglicherweise keine Kinder bekommen können. Was waren ihre Aussichten? Sie hatte Evan Blantyre kennengelernt, er hatte sich in sie verliebt und konnte ihr ein äußerst angenehmes Leben bieten. Wahrscheinlich hatte Ihre Großtante zu jener Zeit keine Beweise gegen ihn in der Hand. Er hatte gemäß seiner leidenschaftlich vertretenen Überzeugung gehandelt, dass der Bestand des Habsburgerreiches gut für Europa sei – eine Überzeugung, an der er bis auf den heutigen Tag festhält. Ihre Großtante hat Adriana so sehr geliebt, dass sie sich entschieden hat, ihr ein glückliches Leben in materieller Sicherheit zu ermöglichen. Als sie merkte, dass sie die Herrschaft über ihren Geist zu verlieren begann, fürchtete sie nichts so sehr wie die Möglichkeit, unabsichtlich die Wahrheit zu sagen und Adriana damit eine Last aufzubürden, mit der sie nicht würde leben können.«
Nerissa stieß langsam den Atem aus. »Dann hatte sie ja wohl mit dieser Befürchtung recht, denn genau das ist geschehen.«
»Tatsächlich?«, fragte er mit so starkem Zweifel in der Stimme, dass sie es unmöglich überhören konnte. »Und daraufhin hat Mrs. Blantyre sie umgebracht und ist nach Hause gegangen, um sich selbst das Leben zu nehmen? Aber warum denn nur, in Dreiteufelsnamen?«
Nerissa schüttelte den Kopf.
Pitt beugte sich ein wenig vor und sagte mit eindringlicher Stimme: »Ihr eigener Mann hatte ihren Vater verraten, nicht Ihre Großtante Serafina. Wenn Mrs. Blantyre jemanden umbringen wollte, dann doch wohl ihn. Aber sie wusste es nicht, Miss Freemarsh. Ihre Großtante hat ihre Geheimnisse für sich behalten und ist gestorben, bevor sie sie jemandem enthüllen konnte – außer vielleicht Mr. Blantyre. Er war längere Zeit bei ihr, nicht wahr? Er ist ins Haus gekommen, um Sie zu besuchen, denn er war Ihr Liebhaber, ist aber jedes Mal zu Ihrer Großtante nach oben gegangen, damit die Sache achtbar aussah. Hat er Ihnen das nicht
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