Mord in Dorchester Terrace: Ein Thomas-Pitt-Roman (German Edition)
dem Sonnenlicht zu, das auf dem Wasser tanzt, und stellen uns vor, dass es immer so sein wird.«
»Hat das viel mit dem Überdauern des Habsburgerreiches zu tun?«, fragte er.
»Kaum«, gab sie zurück, »aber eine Menge mit Indiskretionen und Geheimnissen, die Menschen nach wie vor für sich behalten wollen, sogar noch nach vierzig Jahren.«
Der krosse Toast und die kräftige Orangenkonfitüre schmeckten ihm mit einem Mal nicht mehr. Es kam ihm vor, als habe er Pappe im Mund.
»Du meinst, dass Serafina an allen diesen Orten war und vieles gewusst hat?«
»Sie war eine ausgezeichnete Beobachterin. Das gehörte zu ihren besonderen Fähigkeiten.«
»Es gab Österreicher, die sie hätte erpressen können«, folgerte er.
»Unbedingt. Oder, was für uns wichtiger sein dürfte, auch Briten.«
Trotz der Wärme in jenem ganz in Gelb gehaltenen Zimmer ergriff jetzt eine eisige Kälte von ihm Besitz.
»Sie war weder gehässig noch gewissenlos«, sagte Vespasia mit freundlicher Stimme. »Aber sie hat die Schwächen der Menschen durchschaut. Möglicherweise hat Blantyre trotz ihrer Verwirrtheit vieles in Erfahrung gebracht oder konnte es sich zusammenreimen. Er fühlt sich durch keinerlei moralische Bedenken daran gehindert, seinen Kreuzzug zur Bewahrung der Macht der Donaumonarchie und all dessen fortzuführen, was seiner Ansicht nach davon abhängt.«
Pitt beugte sich langsam vor, die Hände vor dem Gesicht, als könne er sich vor dieser Aussicht verbergen und Kräfte sammeln, bevor er sich diesem Albtraum stellte.
»Es dürfte an der Zeit sein, einige äußerst schwierige Entscheidungen zu treffen, mein Lieber«, sagte Lady Vespasia nach einer Weile. »Sobald du dafür gesorgt hast, dass Herzog Alois in Sicherheit ist, wirst du dir Evan Blantyre vornehmen müssen. Du hast das Herz eines Polizisten, doch diese Aufgabe erfordert das Gehirn des Leiters der Abteilung Staatsschutz. Vergiss das nicht, Thomas. Zu viele Menschen verlassen sich auf dich.«
KAPITEL 12
In Dorchester Terrace wartete Pitt im Wohnzimmer der Haushälterin auf Nerissa Freemarsh. Er nahm an, dass sie ihn mit Absicht hinhielt. Das war ihm in gewisser Weise durchaus recht, denn es gab ihm Zeit, sich genau zu überlegen, was er sagen, wie viel von der Wahrheit er ihr enthüllen und wie starken Druck er auf sie ausüben wollte.
Anfangs hatte er ihr ein gewisses Mitgefühl entgegengebracht. Er hatte in den bei der Polizei verbrachten Jahren häufig gesehen, dass ledige junge Frauen von Verwandten abhängig waren, die sie als unbezahlte Dienstboten ausbeuteten. Es war für jeden Menschen bedrückend, abhängig zu sein, einem Leben zuschauen zu müssen, an dem man nicht selbst teilhaben konnte. Auch wenn manche dieser Frauen überzeugt waren, vollständig integriert zu sein, waren sie in Wahrheit weit weniger glücklich, als sie sich gaben. Nerissa Freemarsh war eine von denen, die so recht keine Wahl gehabt hatten. Sie besaß weder den Charme noch den Wagemut, wie einst ihre Großtante Serafina das Abenteuer auf eigene Faust zu suchen, und vielleicht hatte diese sie dafür sogar insgeheim verachtet. Miss Freemarsh würde das wissen, auch wenn es ihr unter Umständen nicht möglich gewesen wäre, das zu benennen.
Ob es ihr wohl geschmeichelt hatte, dass sich der Gatte einer anderen an sie herangemacht und ihr eine Art Liebe vorgegaukelt hatte? Oder mochte sie ihn wirklich und in dem Fall vermutlich weit mehr als er sie? Beleidigte Pitt sie mit seiner Annahme, dass Blantyres Interesse ausschließlich der Großtante gegolten und die Großnichte ihm lediglich als Vorwand gedient hatte, sie besuchen zu können? Er empfand einen gewissen Zorn auf den Mann, der es fertiggebracht hatte, eine so offenkundige Verletzlichkeit auszunutzen. Jetzt war es seine Aufgabe, ihr die schmerzliche Wahrheit zu enthüllen, was sicherlich zu einer hässlichen Szene führen würde. Ganz gleich, wie selbstsüchtig die junge Frau sein mochte, ihr Schmerz ging sicherlich auf eine Art von Verzweiflung zurück.
Nerissa Freemarsh trat ein, ohne angeklopft zu haben. Sie zog die Tür hinter sich zu und blieb ihm gegenüber stehen, als er aufstand. Sie trug eine mit Kristallen besetzte Gagatbrosche und dazu passende Ohrringe, was ihr Gesicht etwas weniger unfreundlich als sonst erscheinen ließ. Pitt fragte sich flüchtig, ob der herrliche Schmuck Serafina gehört hatte.
»Guten Morgen, Miss Freemarsh«, sagte er in neutralem Ton. »Es tut mir leid, Sie noch einmal stören zu
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