Mord in Dorchester Terrace: Ein Thomas-Pitt-Roman (German Edition)
eingeredet? Nur hat es sich in Wahrheit genau umgekehrt verhalten. Er ist gekommen, um festzustellen, wie weit der Geist Ihrer Großtante verwirrt war und welche Ereignisse aus der Vergangenheit sie möglicherweise in Gegenwart seiner Frau ausplaudern konnte.«
»Nein!«, schrie sie auf. »Nein! Wie können Sie so etwas Abscheuliches sagen!« Sie machte eine rasche Bewegung mit der Hand, als wolle sie den Gedanken abwehren.
»Das ist es in der Tat«, stimmte er zu. »Aber wir sprechen über einen Mann, dem der Bestand der Donaumonarchie über alles geht. Er hat seinen Freund Lazar Dragovic verraten, woraufhin dieser misshandelt und umgebracht wurde. Später hat er dessen Tochter geheiratet. Wir wissen nicht, ob aus Schuldgefühl oder weil sie schön und verletzlich war. Vielleicht aber fühlte er sich auch sicherer, wenn er wusste, wo sie war. Außerdem konnte er sich damit einen gewissen Status in der Gemeinschaft jener verschaffen, die nach wie vor danach strebten, das österreichische Joch abzuschütteln. Die ganze Balkanhalbinsel wimmelt von solchen Leuten.«
»Das ist …«, setzte sie an, konnte aber nicht weitersprechen.
»… logisch«, sagte er. »So ist es. Und Sie sind nichts als ein weiteres Opfer dieses Mannes, auf der Ebene der Moral wie auch der des Gefühls.«
Jetzt liefen ihr die Tränen über die Wangen. »Ich habe nichts getan …« Sie unterbrach sich erneut.
»Ich bin bereit zu glauben, dass Sie nichts von seiner Absicht wussten, Ihre Großtante zu töten, und dass Ihnen das auch möglicherweise nicht gleich nach der Tat bekannt war«, sagte er etwas freundlicher. »Eventuell haben Sie auch über den Tod seiner Gattin bewusst nicht weiter nachdenken oder sich überlegen wollen, wie die Wahrheit aussah. Daher halte ich es im Augenblick nicht für sinnvoll, Sie wegen Beihilfe anzuklagen. Sollten Sie sich allerdings weiterhin einer Zusammenarbeit verweigern, könnte sich das ändern.«
»Zu… Zusammenarbeit? Wie soll die aussehen?« Sie wollte ihre Mitwisserschaft und sogar ihre Kenntnis der Umstände bestreiten, doch erstarben ihr die Worte auf der Zunge. Sie hatte die Zusammenhänge gekannt – zumindest erahnt –, war aber nicht bereit gewesen, sich diesen Schlussfolgerungen zu stellen. Ihr war bewusst, dass Pitt ihr das von den Augen ablesen konnte.
»Sagen Sie mir, wer am Tag der Ermordung Ihrer Großtante und am Tag davor im Hause war.«
»Am Tag … davor?« Sie rang die Hände im Schoß.
»Und kommen Sie bitte nicht auf den Gedanken, etwas zu verfälschen oder auszulassen. Sollten wir nachträglich dergleichen feststellen, würde man das als deutlichen Hinweis darauf werten, dass Sie zumindest mitschuldig sind, und es würde zugleich die Schuld der anderen erhärten. Warum sonst sollten Sie etwas verheimlichen wollen?«
Jetzt zitterte sie am ganzen Leibe. Er glaubte, ihre Zähne aufeinanderschlagen zu hören.
»Ihnen bleibt keine Wahl, Miss Freemarsh, wenn Sie Ihre Haut retten wollen. Selbstverständlich werde ich zumindest noch mit einigen der Dienstboten im Hause erneut sprechen müssen.«
Es dauerte einige Sekunden, bis sie zu reden begann, so, als suche sie nach wie vor eine Möglichkeit, sich aus der Sache herauszuwinden.
Er wartete schweigend.
»Mr. Blantyre war an dem Tag hier, an dem Tante Serafina gestorben ist«, sagte sie schließlich. »Er ist oft gekommen. Ich kann mich nicht an jedes Mal erinnern. Zwei- oder dreimal die Woche. Er hat eine gewisse Zeit mit mir verbracht … und eine gewisse Zeit mit ihr. Damit es achtbar aussah, ganz wie Sie gesagt haben.«
»Und am Tag ihres Todes war er bestimmt hier?«, fasste Pitt nach.
»Ja.«
»War er allein bei ihr?«
»Ja.« Ihre Stimme war kaum hörbar.
»Welchen Grund hat er Ihnen genannt?«, fragte er.
»Sie haben es vorhin selbst gesagt – damit es … achtbar aussah!«
»Sonst noch jemand?« Er wusste selbst nicht so recht, warum er die Frage stellte, außer dass er ein gewisses Zögern ihrerseits spürte, den Willen, nicht mehr zuzugeben als unbedingt nötig. »Ich möchte es lieber von Ihnen als von den Dienstboten hören. Sie sind das Ihrer Würde schuldig, Miss Freemarsh. Ihnen ist wenig genug davon geblieben. Übrigens würde ich Ihnen raten, das Personal nicht zu entlassen. Solange die Leute bei Ihnen angestellt sind, liegt es in ihrem eigenen Interesse, Stillschweigen zu bewahren. Falls sie das Haus verlassen müssten, würde man den Grund dafür wissen wollen, und höchstwahrscheinlich würden die
Weitere Kostenlose Bücher