Mord in Dorchester Terrace: Ein Thomas-Pitt-Roman (German Edition)
verständlich und sogar bewundernswert erscheinen, dass er weiter pflichtbewusst seiner Arbeit nachging.
Pitt hatte sich telefonisch angemeldet, und so erwartete ihn Blantyre in seinem Büro.
»Gibt es Neues?«, fragte er, während er sich in seinen schweren Sessel nahe dem Kamin setzte. Obwohl es Mitte März war, war es draußen bitterkalt, und beide waren müde und durchgefroren.
»Ja«, gab Pitt zurück und nahm ihm gegenüber vor dem Kamin Platz. »Ich weiß jetzt, wer Mrs. Montserrat getötet hat und warum. Sie wissen es übrigens ebenfalls.« Aufmerksam musterte er Blantyres Gesicht, konnte aber weder darin noch in seinen Augen die geringste Regung entdecken.
»Und übrigens auch, wer Ihre Gattin getötet hat«, fuhr Pitt fort. »Auch das ist Ihnen ebenfalls bekannt.«
Diesmal durchzuckte sein Gegenüber ein Schmerz, der Pitts fester Überzeugung nach nicht gespielt war. Es musste den Mann schwer angekommen sein, sie zu töten, doch war ihm keine Wahl geblieben, wenn er selbst weiterleben wollte. Sie hätte ihm den Tod ihres Vaters nie verziehen und vielleicht auch den Serafina Montserrats nicht. Selbst wenn sie zu niemandem darüber gesprochen hätte, hätte er nie wieder ruhig schlafen können, wenn sie im Hause war, ja eventuell nicht einmal bedenkenlos essen oder trinken können. Er wäre sich stets dessen bewusst gewesen, dass sie ihn aufmerksam beobachtete. Während er sich ausgemalt hätte, was sie jetzt ihm gegenüber empfinden und wann sie zur Tat schreiten mochte, weil sie sich nicht länger beherrschen konnte, hätte er den Verstand verloren.
Mit gleichmütiger Stimme fuhr Pitt fort: »Außerdem habe ich in Erfahrung gebracht, wer seinerzeit Lazar Dragovic an die Österreicher verraten hat, woraufhin dieser misshandelt und erschossen wurde. Damit hat das alles begonnen.«
»Es ließ sich nicht vermeiden«, sagte Blantyre fast im Gesprächston, so, als redeten sie über eine bedauerliche finanzielle Fehleinschätzung oder die Entlassung eines alten Dienstboten, der zu nichts mehr zu gebrauchen war. »Vielleicht verstehen Sie das nicht«, fuhr er fort. »Sie sind ein Mann, der vermittels seines Verstandes und mithilfe von Schlussfolgerungen zu Ergebnissen kommt und es anderen überlässt, die notwendigen Schritte zu unternehmen. Solch ein Mensch war mein Vater. Klug und voll Mitgefühl, aber nie bereit, etwas zu tun, was seine entschiedene moralische Grundhaltung hätte erschüttern können.« Ein bitterer Ausdruck trat auf seine Züge, und er fuhr mit fast erstickter Stimme fort: »Er musste jede Nacht ruhig schlafen können, ganz gleich, ob andere Menschen lebten oder starben.«
Pitt schwieg.
Blantyre beugte sich in seinem Sessel vor und sah ihn unverwandt an. »Das Reich der Habsburger liegt im Herzen Europas. Wir haben schon früher darüber gesprochen. Bei dieser Gelegenheit habe ich Ihnen klarzumachen versucht, wie komplex die ganze Angelegenheit ist, aber mir scheint, dass Sie nicht über die Grenzen Englands hinausdenken können. Ich kann Sie gut leiden, aber ehrlich gesagt mangelt es Ihnen an Visionen. Sie sind ein kleiner Provinzler. Das britische Weltreich erstreckt sich mit Besitzungen hier und da über den größten Teil der Erde: Großbritannien, Gibraltar, Malta, Ägypten, der Sudan, der größte Teil Afrikas bis hinab zum Kap der Guten Hoffnung; es hat Besitzungen im Mittleren Osten; ihm gehören außer dem gesamten indischen Subkontinent Burma, Hongkong, Shanghai, Borneo, der ganze Kontinent Australien sowie Neuseeland und Kanada sowie Inseln in sämtlichen Weltmeeren. In diesem Reich geht die Sonne in dem Sinne nie unter, dass immer irgendwo über britischem Gebiet heller Tag ist.«
Pitt rührte sich nicht.
Zorn flammte in Blantyres Augen auf. »Mit der Donaumonarchie verhält es sich völlig anders. Abgesehen von den niederländischen Besitzungen bedeckt sie eine zusammenhängende Landmasse, die von Teilen Deutschlands im Nordwesten bis zur Ukraine im Osten reicht, im Süden den größten Teil Rumäniens umfasst, dann an der adriatischen Küste bis Ragusa geht und weiter westlich über Kroatien und Norditalien bis an die Schweiz reicht. In diesem Konglomerat werden elf Hauptsprachen gesprochen, dort sind die reichsten und schöpferischsten Kulturen tätig, wird Wissenschaft auf allen Gebieten des menschlichen Strebens getrieben. Aber es ist zerbrechlich.«
Er riss die Hände empor und auseinander, als wolle er mit seinen kräftigen Fingern eine Art Explosion
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