Mord in Dorchester Terrace: Ein Thomas-Pitt-Roman (German Edition)
andeuten.
»Gerade die Genialität der in diesem Gebilde tätigen Menschen bedeutet, dass es durch die darin aufkeimenden Ideen und die Individualität seiner Bewohner auseinandergerissen werden kann. Die neu entstandene Nation Italien und das Deutsche Reich, beides Länder, die ihre Entstehung dem Aufruhr verdanken und noch dabei sind, ihre Kräfte zu erproben, gefährden die bestehende Ordnung. Italien ist chaotisch, das war schon immer so.«
Unwillkürlich musste Pitt lächeln.
»In Bezug auf das Deutsche Reich liegen die Dinge völlig anders«, fuhr Blantyre ernst fort. »Es ist wendig und unheilbringend. Seine Regierung ist alles andere als chaotisch – im Gegenteil ist das Land hoch organisiert und auf militärischem Gebiet geradezu brillant. Diese Leute werden sich nicht lange zügeln lassen.«
»Deutschland gehört aber doch gar nicht zum Reich der Habsburger«, wandte Pitt ein. »Zwar spricht man in beiden Ländern dieselbe Sprache, und es gibt auch gewisse kulturelle Gemeinsamkeiten, aber von einer Identität kann da keine Rede sein. Die Donaumonarchie wird nie und nimmer die Möglichkeit haben, sich das Deutsche Reich einzuverleiben, denn das wird es nicht zulassen.«
»Gott im Himmel, Pitt, wachen Sie auf!«, schrie Blantyre beinahe. »Sofern das Habsburgerreich auseinanderbricht, die Herrschaft über seine Besitzungen verliert oder es im Osten einen Aufstand gibt, der hinreichend erfolgreich ist, um bedrohlich zu sein, wird sich Wien zu Gegenmaßnahmen gezwungen sehen, wenn es nicht alles verlieren will. Schwierigkeiten in Norditalien wären nicht weiter von Bedeutung, wohl aber solche in slawisch geprägten Teilen des Reiches wie Kroatien oder Serbien, denn die würden sich auf jeden Fall um Hilfe an Russland wenden. Es sind Blutsbrüder, und die Russen warten geradezu auf einen Vorwand, eingreifen zu können. Sobald es dahin kommt, wird sich das Deutsche Reich berechtigt sehen, den deutschsprachigen Teil der Donaumonarchie in seine Gewalt zu bringen.«
Seine Stimme wurde immer rauer, als sei der Albtraum bereits Wirklichkeit. »Dann wird sich Ungarn abspalten, und bevor man weiß, wie sich der Sache Einhalt gebieten lässt, ist ein Krieg in vollem Gange, der sich wie ein Buschfeuer ausbreitet und den größten Teil der Welt mit einbezieht. Glauben Sie ja nicht, dass England dabei ungeschoren davonkäme – ganz im Gegenteil. Der Krieg wird sich von Irland bis in den Mittleren Osten und von Moskau bis Nordafrika erstrecken, wenn nicht gar auf den ganzen Kontinent, der zum größten Teil den Briten gehört. Als Nächstes werden Australien, Neuseeland und Kanada mit in die Auseinandersetzungen einbezogen. Möglicherweise sogar die Vereinigten Staaten.«
Die Ungeheuerlichkeit dessen, was ihm der Mann vortrug, verblüffte Pitt ebenso sehr wie das Grauenhafte und die Absurdität dieses Gedankenspiels.
»Niemand würde zulassen, dass dergleichen geschieht«, sagte er kühl. »Eine Gewalttat auf dem Balkan soll einen Weltenbrand auslösen können – die bloße Vorstellung ist lachhaft.«
Blantyre holte tief Luft und stieß sie langsam wieder aus.
»Pitt, Österreich ist der Dreh- und Angelpunkt Europas. Der ganze Kontinent steht und fällt mit der Donaumonarchie.« Er sah seinen Besucher eindringlich an. »Natürlich würde es nicht von einem Tag auf den anderen dahin kommen, aber Sie würden sich wundern, wie schnell es ginge, falls Wien die Zügel aus der Hand verlöre und die einzelnen Länder, aus denen das Reich besteht, aufeinander losgingen. Stellen Sie sich einfach eine Straßenschlacht vor. Sie hatten doch bestimmt mit solchen Dingen zu tun, als Sie noch Streife gegangen sind. Wie viele Männer müssen sich prügeln, bis Umstehende eingreifen und jeder Dummkopf, der einen Groll hegt oder zu viel getrunken hat, anfängt, die Fäuste zu schwingen? In einer solchen Situation brechen alle alten Feindseligkeiten hervor, die unter der Oberfläche gegärt haben.«
Vor Pitts inneres Auge traten Bilder dessen, wovon Blantyre gesprochen hatte: Feindseligkeit, blinde Wut und eine Gewalttätigkeit, die sich ihren Weg bahnte, bis sie ihre Opfer fand, ohne an die Folgen zu denken. Wenn erst einmal vom Feuer geschwärzte Mauerreste zerstörter Gebäude anklagend aufragten, überall Glasscherben herumlagen, wenn Blut geflossen war oder es gar Tote gegeben hatte, kam die Reue zu spät.
Blantyre sah ihn aufmerksam an. Er erkannte in Pitts Augen, dass er verstanden hatte. Es war zu spät, das zu
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