Mord in Dorchester Terrace: Ein Thomas-Pitt-Roman (German Edition)
Menge kaum jemand kannte, brauchte er nicht immer wieder stehenzubleiben und Begrüßungsfloskeln auszutauschen.
Auf welche Weise mochte der Herzog von Tregarrons Verwundbarkeit erfahren haben? Bestimmt nicht von Serafina Montserrat, denn die war lange vor seiner Zeit auf dem Gebiet Österreichs tätig gewesen, und er hatte sich, soweit Pitt wusste, noch nie in London aufgehalten.
Pitt war fest überzeugt, dass das nachlassende Gedächtnis jener Frau der eigentliche Auslöser dieser ganzen verworrenen Geschichte gewesen war. Weil Mrs. Montserrat die Umstände von Lazar Dragovics Ende kannte, hatte sich Blantyre veranlasst gesehen, erst sie und dann seine eigene Frau zu ermorden. Nach wie vor war Pitt voll Zorn und zugleich voll Scham darüber, dass es dem Mann gelungen war, ihn so sehr zu verhöhnen und sich zugleich seiner Strafe zu entziehen.
Auch Blantyre kannte Tregarrons Geheimnis. Das hatte er selbst gesagt. Ob er dem Herzog dieses Wissen weitergegeben hatte?
Nein, das ergab keinen Sinn. Zwar mochte er hin und wieder mit ihm zusammengearbeitet haben, doch hätte er weder ihm noch einem anderen seine eigenen Machtmittel in die Hand gegeben, das geheime Wissen, das es ihm ermöglichte, Tregarron nach Belieben zu manipulieren.
Dann traten schlagartig alle Zusammenhänge vor Pitts inneres Auge. Es war, als ginge die Sonne über einer Schreckenslandschaft auf. Blantyre hatte den Tod von Herzog Alois gewollt, da dieser Tregarron mehr in der Hand hatte als er selbst. Wenn der Herzog erst tot war, wäre Pitt der Einzige außer Blantyre selbst gewesen, der Tregarrons Geheimnisse kannte, und Blantyre ging ja eindeutig davon aus, dass Pitt die Entschlusskraft und der Mut zu handeln fehlten.
Vielleicht nahm er sogar an, man werde Pitt aus dem Amt jagen, falls der Herzog, für dessen Schutz Pitt zuständig war, in England ermordet würde. Allzu schwierig wäre das vermutlich nicht, denn Pitt hatte sich als Leiter des Staatsschutzes noch nicht bewährt, füllte das Amt sozusagen nach wie vor auf Probe aus. Hinzu kam, dass er weder ein höherer Offizier noch Angehöriger des diplomatischen Dienstes war, sondern jemand, der sich aus dem einfachen Polizeidienst emporgearbeitet hatte. Da konnte man die Ermordung des Herzogs ohne Weiteres auf seine Unfähigkeit zurückführen. Anschließend hätte Blantyre als Einziger die Macht, Tregarron dazu zu bringen, dass er Wien genau das an Informationen zuspielte, was er ihm diktierte, um seinerseits von dort zu erfahren, was er wissen wollte. Damit Tregarron wirklich von Nutzen für ihn war, musste sowohl Herzog Alois als auch Pitt aus dem Weg geräumt werden.
Es konnte gar nicht anders sein: Blantyre hatte Tregarron mit dem Auftrag losgeschickt, den Herzog zu töten. Bei einem Gelingen dieses Vorhabens wäre Blantyres Plan voll und ganz aufgegangen. Nur allzu gern hätte Pitt gesehen, was für ein Gesicht Blantyre gemacht hatte, als der Herzog wohlbehalten im Kensington-Palast eingetroffen war!
Wo steckte Blantyre überhaupt? War er anwesend? Pitt begann sich gründlich umzusehen. Nach Charlotte würde er später suchen. Entschuldigungen murmelnd drängte er sich durch Lücken in der Menge. Blantyre war nur schwer zu übersehen, denn er war nicht nur ziemlich groß, sondern bewegte sich auch mit einer einzigartigen Mischung aus Eleganz und Steifheit. Hinzu kam seine ganz spezielle Kopfhaltung.
Pitt wandte den Blick dorthin, wo sich Herzog Alois mit der ältlichen Herzogin unterhalten hatte. Sie sprach inzwischen mit einem breitschultrigen Mann in mittleren Jahren. Der Herzog war nirgendwo zu sehen.
Langsam wandte sich Pitt um, wobei er tief Luft holte und sie langsam durch die Zähne wieder ausstieß. Er erkannte einen seiner Männer in der Nähe der Wand, der leicht die Stirn runzelte und ebenfalls hin und her spähte. Offensichtlich hatte auch er den Herzog aus den Augen verloren.
Pitt sah sich nach Emily um. Ihr helles Haar und das blasse Grün ihres Kleides mussten doch leicht zu erkennen sein. Ja, da war sie, und Jack an ihrer Seite.
»Entschuldigung«, sagte Pitt und schob sich eilig an einer Dame in einem maulbeerfarbenen Seidenkleid vorbei. Er merkte kaum, dass sie ihn aufgebracht anfunkelte, und schritt energisch zwischen zwei älteren Herren hindurch, wobei er erneut eine Entschuldigung murmelte. Er durfte Jack auf keinen Fall aus den Augen verlieren.
»Hören Sie mal!«, begehrte ein junger Mann auf, als Pitt ihn anstieß, ohne zu bemerken, dass er selbst einer
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