Mord in Dorchester Terrace: Ein Thomas-Pitt-Roman (German Edition)
fehlte ihr. Es war sonderbar, ohne ihn dort zu sein. Trotz aller Pracht des Palasts mit seinen geschwungenen Marmortreppen und den hohen Decken der Säle empfand sie eine gewisse Leere, obwohl sie von geistreichen Männern und bezaubernden Frauen umgeben war. Unwillkürlich kam ihr Adriana Blantyre in den Sinn, und einen Augenblick lang stiegen ihr Tränen in die Augen. Würde sich ihr Gatte Evan trotz allem, was geschehen war, durch seine Liebe zu Österreich veranlasst sehen, herzukommen? Sie sah sich suchend nach ihm um. Mit seiner eleganten Art würde er ihr sofort ins Auge fallen. Zweimal glaubte sie ihn erkannt zu haben, doch zeigte sich bei näherem Hinsehen, dass es ein anderer war. Sie wusste nicht recht, ob sie enttäuscht oder erleichtert war.
Nach etwa einer halben Stunde wurde sie dem Habsburger Herzog Alois vorgestellt. Er war hochgewachsen, schlank, hatte dunkle Haare und einen angenehmen, leicht geistesabwesend wirkenden Gesichtsausdruck. Doch als er sie ansah, erkannte sie sofort die Klugheit in seinen Augen.
»Ich grüße Sie, Mrs. Pitt«, sagte er mit einem Lächeln.
»Eure Hoheit«, gab sie mit einem angedeuteten Knicks zurück. Auch wenn sie nicht den Wunsch hatte, dass ihm etwas zustieß, fragte sie sich doch, warum Pitt sein Leben aufs Spiel setzen musste, um einen Mann zu schützen, der sich zum Zeitvertreib mit wissenschaftlichen Studien beschäftigte, statt einer nützlichen Tätigkeit nachzugehen.
Jemand erzählte eine lustige Geschichte, und der Herzog lachte darüber, rührte sich aber nicht vom Fleck. Eine junge Dame, die Charlottes Einschätzung nach darauf hoffte, von ihm bemerkt zu werden, sah zu ihnen herüber. Der Herzog schien nichts davon zu merken.
»Ich nehme an, dass Ihr Gatte bald eintreffen wird«, sagte er.
»Gewiss, Hoheit«, gab sie zur Antwort und zwang sich, sein Lächeln zu erwidern. »Er ist aufgehalten worden. Ich weiß nicht, warum. Ich muss um Entschuldigung bitten.«
»Ach, das wissen Sie nicht?« Alois hob die Brauen. Sein Gesichtsausdruck wirkte interessiert. »Man hat unseren Zug zum Anhalten gezwungen, indem man einen Heuwagen auf die Schienen gestellt hat.« Er sagte das, als rede er über etwas so Belangloses wie das Wetter. Sie erkannte einen Anflug von Kummer in seinen Augen. »Bedauerlicherweise hat man auf meinen Freund Hans geschossen. Ihr Gatte hat sich stehenden Fußes an die Verfolgung des Schützen gemacht. Soweit man mir mitgeteilt hat, ist es ihm gelungen, ihn zu fassen.«
Charlotte war wie vor den Kopf geschlagen. Mit einem Mal hatten das Stimmengewirr, das Gelächter und die Musik, die aus einem Nebenraum herüberdrangen, keine Bedeutung mehr; alles war nur Geräuschkulisse.
»Das tut mir aufrichtig leid. Wie geht es Ihrem Freund?«, fragte sie.
»Er ist leider tot.« Nur der Klang seiner Stimme änderte sich bei diesen Worten, nicht aber sein unverbindlicher Gesichtsausdruck. »Ich nehme an, dass er nicht leiden musste. Es war ein gut gezielter Schuss, er hat ihn mitten ins Herz getroffen.«
Sie wusste nicht, was sie angesichts dieses plötzlichen Verlusts sagen sollte, und kam sich töricht vor.
»Er hat mir sehr ähnlich gesehen«, fuhr er fort. Bei diesen Worten stockte seine Stimme ein wenig. »Ihr Gatte ist ein bemerkenswerter Mensch. Ich freue mich darauf, ihn näher kennenzulernen. Vielleicht kommen Sie beide eines Tages nach Wien? Es würde Ihnen bestimmt gefallen, denn es ist eine herrliche Stadt voller Musik und Gedanken und mit einer weit in die Vergangenheit reichenden Geschichte.«
Sie holte tief Luft. »Das würde mich sehr freuen. Vielen Dank, Hoheit.«
Er lächelte und wandte sich dann der jungen Dame in Rosa zu, um mit ihr höflich über belanglose Dinge zu plaudern.
Am anderen Ende des Saals stand Emily neben Jack. Sie hatten soeben eine Unterhaltung beendet und machten sich nun daran, ein Stück weiterzugehen.
»Wo ist Thomas eigentlich?«, fragte Jack seine Frau. »Warum ist er nicht hier?«
»Ich weiß nicht«, gab Emily zurück. »Aber ganz gleich, wo er ist, es beunruhigt Charlotte nicht.«
»Bist du sicher?«, erkundigte er sich besorgt. »Sie würde ihre Unruhe doch nie zeigen.«
»Natürlich bin ich sicher«, sagte Emily mit einer eleganten Bewegung, die ihrem Ärger über sein Unverständnis Ausdruck verlieh. »Schließlich ist sie meine Schwester. Ich würde es merken, wenn sie uns etwas vorspielte.«
Er sah sie mit gehobenen Brauen an. »In den letzten Wochen hast du sie aber nicht besonders gut
Weitere Kostenlose Bücher