Mord in Dorchester Terrace: Ein Thomas-Pitt-Roman (German Edition)
Pitt eine Mitteilung des Inhalts zukommen, dass er die Obduktion beendet habe und darüber berichten könne. Er sei in der Lage, ihm die genaue Todesursache mitzuteilen; die Erkundung der näheren Umstände hingegen wolle er Pitt überlassen.
Leichenschauhäuser aufzusuchen hatte den größten Teil seines Erwachsenenlebens hindurch zu Pitts traurigen Pflichten gehört. Seit seinem Eintritt in den Staatsschutz war das allerdings seltener nötig gewesen. Schon als er aus der frischen Luft der Straße in das Gebäude trat, in dem eine unheimliche Stille herrschte, nahm er den Geruch von Tod und Chemikalien sowie die Feuchtigkeit in der Luft wahr. Man hätte meinen können, dass wegen des ständigen Abwaschens von Blut nichts in dem ganzen Gebäude je wirklich trocken oder warm wurde. Diese Mischung aus Karbol, Essig und Formaldehyd war für ihn schlimmer als alle natürlichen Gerüche, und die Kälte, die im ganzen Gebäude herrschte, erweckte den Eindruck, als gebe es dort keinerlei Leben oder Atem.
»Nun?«, fragte er, als er mit Thurgood in einem der Dienstzimmer allein war.
»Es war Opiumtinktur«, gab Thurgood bedrückt zurück. »Sie hat das Mittel regelmäßig eingenommen, da sie oft nicht einschlafen konnte. Sie hat dann ganze Nächte hindurch wachgelegen und bei jedem Knarren der Deckenbalken gedacht, es seien Schritte.«
»Sie meinen, dass Mrs. Montserrat zum Schluss zu viel davon genommen hat?«, fragte Pitt ungläubig. »Wurde ihr das Mittel denn nicht von jemandem verabreicht, der wusste, was er tat? Beispielsweise von Miss Freemarsh oder ihrer Zofe? Miss Tucker war den größten Teil ihres Lebens um sie und hätte ihr auf keinen Fall aus Versehen eine zu große Dosis gegeben.« Flüchtig kam ihm der Gedanke, die treue Miss Tucker habe es möglicherweise mit voller Absicht getan, um die alte Frau von ihrer entsetzlichen Angst zu erlösen. Damit hätte sie lediglich das unvermeidliche Ende beschleunigt. Dann musste er an den Gesichtsausdruck der Zofe denken, und der Gedanke verschwand sofort wieder.
»Angesichts der Höhe der Dosis kann es sich keinesfalls um ein Versehen gehandelt haben«, gab Thurgood zur Antwort. Sein Gesicht zeigte, wie unglücklich er über die Situation war. »Die Menge betrug mindestens das Fünffache dessen, was zum Einschlafen nötig gewesen wäre. Im Übrigen ist es alles andere als einfach, Opiumtinktur überzudosieren. Man hält die Lösung mit voller Absicht schwach, damit dergleichen nicht versehentlich geschieht. Um den Tod herbeizuführen, müsste man schon bald nach der überhöhten ersten Dosis eine überhöhte zweite, wenn nicht gar eine dritte, einnehmen. Ich hatte sowohl Miss Tucker als auch Miss Freemarsh ausdrücklich angewiesen, den Vorrat in einem weder vom Schlafzimmer noch vom Bad aus zugänglichen verschlossenen Schrank aufzubewahren.«
Pitts Kältegefühl verstärkte sich. »Und wo befand sich der Schlüssel dazu?«
»An einem Ring in einem anderen Schrank, und zwar so hoch, dass ihn Mrs. Montserrat auf keinen Fall erreichen konnte.« Auch den Arzt schien ein Kälteschauer zu überlaufen. Er stand steif und unbehaglich da, die Hände so fest ineinandergeschlungen, dass die Knöchel weiß hervortraten. »Wenn Mrs. Montserrat ihre übliche Dosis genommen hätte, um einschlafen zu können, wäre sie, selbst wenn das Mittel die erwünschte Wirkung nicht gehabt hätte, so benommen gewesen, dass es ihr keinesfalls möglich gewesen wäre, aufzustehen, aus dem Schlafzimmer über den Treppenabsatz in die Teeküche zu gehen und dort auf einen Stuhl zu steigen, um den Schrank zu öffnen, den dort aufbewahrten Schlüssel herauszunehmen und anschließend vor dem Arzneischrank noch einmal auf einen Stuhl zu steigen. Mithin muss ihr jemand das Mittel verabreicht haben, wobei ich nicht sagen kann, ob unbeabsichtigt oder nicht. Allerdings kann ich mir ein Versehen dieser Art nicht gut vorstellen.« Er sah Pitt an. »Es muss wohl mit voller Absicht geschehen sein, und es ist mir sehr lieb, dass es nicht mir obliegt, das zu ermitteln.«
»Ich verstehe. Vielen Dank.« Pitt war zutiefst enttäuscht. Er brauchte die Möglichkeit gar nicht zu erwägen, dass sich die alte Frau, von Angst und Verwirrung getrieben, selbst das Leben genommen hatte, vielleicht sogar in der Absicht, sich dem geistigen Verfall zu entziehen, dessen Einsetzen sie durchaus bewusst wahrgenommen hatte. Die Sache sah eindeutig nach Mord aus.
Damit stellte sich die Frage, ob eine auf Habgier und Ungeduld
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