Mord in Dorchester Terrace: Ein Thomas-Pitt-Roman (German Edition)
ihr nach dem Leben trachten.«
Sie sah, wie sich Pitts Züge noch mehr anspannten und sein Körper sich kaum merklich straffte. Er wusste im Voraus, was sie als Nächstes sagen würde: »Es ist nicht auszuschließen, dass man sie umgebracht hat.«
Pitt nickte bedächtig. »Wie lautet die Adresse?«
»Dorchester Terrace 15«, gab sie zurück. »Gleich neben Blandford Square. Vielleicht solltest du dich beeilen, für den Fall, dass man Dinge beiseitegeschafft oder … versteckt hat …«
Er war bereits aufgestanden. »Ich weiß.«
Pitt forderte Stoker auf, ihn zu begleiten, und erklärte ihm, worum es ging, während sie rasch ihrem Ziel entgegenstrebten. Wie Vespasia gesagt hatte, waren es nur einige Hundert Schritte. Die Zeit genügte kaum, um Stoker mit Serafinas Geschichte und dem Grund dafür bekannt zu machen, warum ihre Befürchtungen so ernst zu nehmen waren, dass für den Staatsschutz ein Anlass gegeben war, sich zu vergewissern, ob sie sich erfüllt hatten oder nicht. Stoker widersprach Pitts Einschätzung nicht; ihm genügte der Hinweis, dass Österreich in die Sache hineinspielte.
Ein Dienstmädchen, das Trauer trug, öffnete den beiden Männern mit unwirscher Miene. Sie wollte schon Luft holen, um ihnen mitzuteilen, dass sie unerwünscht seien, als Nerissa Freemarsh hinter ihr im Vestibül auftauchte.
»Guten Tag«, sagte Pitt. »Ich bin Thomas Pitt, Leiter der Abteilung Staatsschutz. Der Mann neben mir ist Wachtmeister Stoker. Wir sind im Zusammenhang mit dem Tod von Mrs. Montserrat hier. Dürften wir eintreten?« Er sagte das so, dass er jeden Ansatz zum Widerspruch im Keim erstickte, und setzte den Fuß über die Schwelle, bevor sie auch nur ein Wort sagen konnte.
Ihr Gesicht war aschfahl, die Augen vom Weinen stark gerötet. »Wieso … was hat das mit meiner Tante zu tun?« Sie zitterte so sehr, dass Pitt befürchtete, sie werde in Ohnmacht fallen.
»Lassen Sie uns bitte eintreten, Miss Freemarsh, damit Sie sich hinsetzen können. Vielleicht könnte Ihr Mädchen Tee oder etwas anderes zu Ihrer Stärkung bringen. Möglicherweise brauchen wir Sie gar nicht zu belästigen, aber Ihre Großtante war für ihr Land von großer Bedeutung, und wir müssen uns vergewissern, dass es bei ihrem Tod mit rechten Dingen zugegangen ist.«
»Was wollen Sie damit sagen?« Nerissa schluckte. »Sie war alt und krank. Sie wusste nicht mehr, was sie sagte, und hat sich alles Mögliche eingebildet.« Sie schlug sich die Hände vor das Gesicht. »Bestimmt steckt Lady Vespasia dahinter, nicht wahr?«, sagte sie vorwurfsvoll. »Sie mischt sich in Dinge ein …«
»Miss Freemarsh, gibt es etwas im Zusammenhang mit dem Tod Ihrer Großtante, was Sie uns vorenthalten wollen?«
»Natürlich nicht! Ich möchte nur, dass man sie mit Anstand und Achtung behandelt und dass … dass keine Polizisten hier im Haus herumtrampeln und aus der Tragödie, die uns heimgesucht hat, ein Spektakel machen.«
»Es ist keine Tragödie, wenn alte Menschen sterben, Miss Freemarsh«, sagte er in freundlicherem Ton. »Es sei denn, dass Dinge dabei mit hineinspielen, die da nichts zu suchen haben. Übrigens bin ich kein Polizeibeamter, sondern, wie ich gesagt habe, der Leiter des Staatsschutzes. Sofern Sie den Menschen Ihrer Umgebung nichts anderes erzählen, kann jeder in mir einen Regierungsbeamten sehen, der gekommen ist, um einer allgemein bewunderten und geschätzten Dame Respekt zu erweisen.«
Stoker folgte Pitt und schloss die Haustür hinter ihnen.
Nerissa wich ein wenig in das große Vestibül mit den Bildern an den Wänden und der geschwungenen Treppe zurück, auf deren unterstem Pfosten eine Lampe prangte.
»Hier gibt es für Sie nichts zu tun!«, begehrte sie erneut auf. »Tante Serafina ist irgendwann vergangene Nacht im Schlaf gestorben. Der Arzt sagt, dass das wahrscheinlich schon ziemlich früh geschehen ist, weil … weil sie kalt war, als ich sie heute Morgen angefasst habe.« Ein Schauer überlief sie, als strecke die Erinnerung ihre eisige Hand nach ihr aus. »Warum tun Sie das? Das ist unmenschlich!«
Stoker trat hinter Pitt unruhig von einem Fuß auf den anderen. Pitt wusste nicht, ob dieses Zeichen von Ungeduld ihm selbst oder Nerissa Freemarsh galt, und er konnte es sich auch nicht leisten, darauf zu achten.
»Mir an Ihrer Stelle wäre es lieb zu wissen, dass alles mit rechten Dingen zugegangen ist«, sagte er gelassen. »Ich bedaure, dass ich mir in dieser Hinsicht Gewissheit verschaffen muss und leider keine
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