Mord in Dorchester Terrace: Ein Thomas-Pitt-Roman (German Edition)
zurückgehende häusliche Tragödie dahintersteckte. War die Großnichte nicht bereit gewesen, noch ein, zwei oder gar drei Jahre die Gesellschafterin ihrer Großtante zu spielen und sich immer wieder deren Tagträume anzuhören? Hatte sie einen Geliebten, der es leid war, länger auf sie warten zu müssen – oder befürchtete sie das zumindest? Unter Umständen ging es auch einfach um den Hass einer jungen Frau, die sich nicht in einen öden Alltag ohne Liebe einsperren lassen wollte. Wie alt mochte sie sein? Vielleicht Mitte dreißig. Wie viele Jahre blieben ihr noch, um Kinder zu bekommen? Verzweiflung war eine mächtige Triebkraft, die durchaus Bedenken aller Art über den Haufen zu werfen vermochte.
Unter Umständen hatte die Sache gar nichts mit der Vergangenheit der Toten oder dem Staatsschutz zu tun. Pitt musste sich Gewissheit verschaffen.
»Danke«, sagte er erneut.
Thurgood lächelte betrübt. »Ich schicke Ihnen einen schriftlichen Bericht mit den genauen Mengenangaben und so weiter. Am Tatbestand besteht nicht der geringste Zweifel, und ich kann dem, was ich Ihnen darüber gesagt habe, nichts hinzufügen.«
»Gibt es keine Auffälligkeiten am Körper? Sie wissen schon: Flecken, Male oder Ähnliches? Kratzer, Abschürfungen, Hämatome? Irgendeinen Hinweis darauf, dass man sie gewaltsam festgehalten hat? An den Handgelenken? Eine Verletzung in der Mundhöhle?«
»Doch, sogar mehrere«, sagte Thurgood mit kläglicher Stimme. »Aber die Haut alter Menschen ist empfindlich, da kommt es leicht zu solchen Verletzungen. Sofern ihr jemand das Mittel gegen ihren Willen eingeflößt hätte, würde ich erwarten, entsprechende Male an ihren Handgelenken zu finden. Man braucht Kraft, um einen Menschen niederzuhalten, der um sein Leben kämpft, selbst wenn es sich um eine alte Frau handelt.«
»Würden Sie es merken, wenn Sie Opiumtinktur einnähmen?«, ließ Pitt nicht locker. »Wie schmeckt die?«
»Das würde jeder merken«, versicherte ihm Thurgood. »Glauben Sie mir, wenn jemand eine so große Menge einnimmt, geschieht das auf keinen Fall aus Versehen, sondern entweder absichtlich oder unter Zwang. Die einzige andere Möglichkeit, die mir bei gründlichem Nachdenken eingefallen ist, besteht darin, dass Mrs. Montserrat erst die normale Dosis eingenommen hat und ihr dann jemand, als sie sich im Halbdämmer befand, den Rest eingeflößt hat. Sollte davon etwas danebengeflossen sein, hat der Betreffende es weggewischt, vielleicht mit ein wenig Wasser, sodass keine erkennbaren Spuren geblieben sind.« Er zuckte die Achseln mit einem Ausdruck der Hoffnungslosigkeit auf dem Gesicht. »Doch selbst wenn es Spuren gäbe, würden die nichts beweisen. Vielleicht ist es des Öfteren vorgekommen, dass sie etwas verschüttet hat, wenn sie aufrecht im Bett saß. Schließlich war sie alt und zittrig.«
»Aha. Vielen Dank.«
Thurgood spreizte nur noch hilflos die Hände.
Am Spätnachmittag, als das Licht am Himmel bereits zu verblassen begann, kehrte Pitt noch einmal zum Haus in Dorchester Terrace zurück. Der Lakai, der ihm öffnete, ließ ihn im ungeheizten Empfangszimmer warten, bis ihn Nerissa in den Salon bat, wo die Vorhänge nach wie vor vollständig geschlossen waren. Sie wirkte deutlich gefasster als bei seinem ersten Besuch, wenn auch ebenso angespannt.
»Was ist denn jetzt schon wieder, Mr. Pitt? Haben Sie uns nicht bereits genug Ärger gemacht?«, fragte sie kalt. Er sah, dass sie ihre Hände zu Fäusten geballt hatte. »Ich kann mir beim besten Willen nicht vorstellen, was Sie mit der Obduktion erreichen wollten, und ich verwahre mich mit allem Nachdruck gegen diese abstoßende Schändung der Verstorbenen – auch wenn das leider nichts mehr nützt.«
»Es war unerlässlich, um die genaue Todesursache feststellen zu können, Miss Freemarsh«, gab er zurück und sah ihr aufmerksam in das vor Wut verzogene Gesicht. »Zu meinem Bedauern muss ich sagen, dass Ihre Großtante an einer Überdosis Opiumtinktur …« Er unterbrach sich mitten im Satz, weil er fürchtete, sie werde in Ohnmacht fallen. Sie schwankte und hielt sich an der Sofalehne fest.
»Einer … Überdosis?«, fragte sie und fuhr sich mit der Zunge über die Lippen, als seien sie so trocken, dass sie fürchtete, sie könnten aufplatzen. »Ich dachte … ich dachte, das Medikament sei ungefährlich. Wie soll das überhaupt vor sich gegangen sein? Wir haben sorgfältig darauf geachtet, dass es nicht in ihrem Zimmer aufbewahrt wurde, sondern in der
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