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Mord in Mesopotamien

Mord in Mesopotamien

Titel: Mord in Mesopotamien Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Agatha Christie
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«Es ist nicht so einfach, wie es scheint», schloss er, «manchmal ist das Motiv Machtgier, öfter aber ein starker Minderwertigkeitskomplex.» Nachdenklich fügte er hinzu: «Glauben Sie, Doktor, dass Mrs Leidner unter Minderwertigkeitskomplexen litt?»
    «Das wäre das Letzte, was ich von ihr angenommen hätte. Leben, Leben und noch einmal Leben… das war, was sie verlangte und auch bekam.»
    «Halten Sie es, psychologisch gesehen, für möglich, dass sie selbst die Briefe geschrieben hat?»
    «Ja, aber nur aus dem Wunsch heraus, sich in Szene zu setzen. Mrs Leidner war eine Art Filmstar. Sie musste der Mittelpunkt sein… musste im Rampenlicht stehen. Gegensätze ziehen sich an, und so heiratete sie Leidner, den bescheidensten, zurückhaltendsten Menschen, den ich kenne. Er vergötterte sie, doch das genügte ihr nicht, sie wollte auch noch die verfolgte Unschuld sein.»
    «Sagen Sie einmal ganz offen, Herr Doktor, was Sie eigentlich von Mrs Leidner hielten.»
    Dr. Reilly zog nachdenklich an seiner Pfeife. «Das ist recht schwierig, denn ich kannte sie nicht sehr gut. Sie war bezaubernd, intelligent, sympathisch… und sonst? Sie hatte kein ausgesprochenes Laster, war nicht sinnlich, nicht faul und auch nicht besonders eitel. Ich hielt sie nur – ich habe zwar keine Beweise dafür – für eine vollendete Lügnerin. Was ich allerdings nicht weiß und was ich gern wüsste, ist, ob sie auch sich selbst belog oder nur ihre Mitmenschen. Ich hielt sie für keine ausgesprochene Männerjägerin, doch es machte ihr Spaß, möglichst viele Männer zu ihren Füßen zu sehen. Wenn Sie meine Tochter darüber sprechen hörten…»
    «Wir hatten bereits das Vergnügen», unterbrach ihn Poirot.
    «So», sagte Dr. Reilly. «Sie hat sich also Luft gemacht. Die jüngere Generation hat keine Ehrfurcht vor dem Tod, sie verdammt die ‹alte Moral›. Wenn Mrs Leidner ein halbes Dutzend Liebeleien gehabt hätte, hätte Sheila das vermutlich gebilligt und gefunden, ‹sie habe ihr Leben gelebt› oder ‹sie sei eben ihren Instinkten gefolgt›. Sie hat jedoch nicht erkannt, dass Mrs Leidner ihren Neigungen gemäß gelebt hat. Auch die Katze gehorcht ihrem Instinkt, wenn sie mit der Maus spielt. Sheila hat aber wenigstens ehrlich zugegeben, dass sie Mrs Leidner aus persönlichen Gründen hasst. Sheila ist hier das einzige junge Mädchen, und, es ärgert sie, wenn eine Frau, die nicht ausgesprochen jung und schon zum zweitenmal verheiratet ist, ihr ins Gehege kommt. Sheila ist hübsch, gesund und gefällt den jungen Männern. Mrs Leidner aber war ganz anders, sie hatte diesen gefährlichen Zauber, der Männer um den Verstand bringt.»
    «Ist es indiskret zu fragen, ob sich Ihre Tochter für einen der jungen Männer hier besonders interessiert?», fragte Poirot.
    «Ich glaube es nicht. Sie geht mit Emmott und Coleman tanzen, aber ich wüsste nicht, dass sie den einen dem anderen vorzöge. Und dann scharwenzeln zwei junge Fliegeroffiziere um sie herum. Diese jungen Burschen sind gewissermaßen Fische für ihre Netze. Meiner Ansicht nach war sie wütend, dass das Alter wagte, die Jugend herauszufordern und in den Schatten zu stellen. Sheila ist ein hübsches Mädchen – aber Louise Leidner war schön. Diese herrlichen Augen, dieses wunderbare goldblonde Haar… ach ja, sie war eine schöne Frau!»
    Ja, dachte ich, er hat Recht, Schönheit ist etwas Wunderbares, und Mrs Leidner war wirklich schön; es war nicht jene Schönheit, auf die man eifersüchtig ist, sondern jene, die man einfach bewundern muss. Nun fiel mir aber ein, wie Mrs Leidner darauf bestanden hatte, an jenem Nachmittag ohne mich auszugehen. Vielleicht war sie damals mit Mr Carey verabredet gewesen… auch die förmliche Art und Weise, in der die beiden miteinander verkehrten, war verdächtig; die andern hatte sie meist mit den Vornamen angesprochen. Wie ich mich jetzt erinnerte, hatte er sie auch nie angeschaut. Der Grund konnte sein, dass er sie nicht mochte… aber auch das Gegenteil… Doch dann rief ich mich zur Ordnung. Ich kam auf die merkwürdigsten Gedanken, nur weil ein eifersüchtiges junges Mädchen sich gehässig geäußert hatte! Mrs Leidner war nicht so gewesen… sie hatte Sheila Reilly offensichtlich nicht gemocht. Wie sie zu Mr Emmott über Sheila gesprochen hatte, war boshaft, gewesen. Und wie merkwürdig er sie daraufhin angesehen hatte! Man wusste nicht, was er dachte; bei Mr Emmott konnte man das nie wissen. Er war ein ruhiger, netter, zuverlässiger

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