Mord in Mesopotamien
plötzlich.»
«Ja, ja», sagte ich, «das verstehe ich. Eine Tasse starken Tee und eine Wärmflasche, das brauchen Sie.» Und das brachte ich ihr, trotz ihres Widerspruchs.
«Danke schön, Schwester», sagte sie, als sie mit der Wärmflasche im Bett lag und den Tee trank. «Sie sind eine nette, verständnisvolle Frau. Ich mache mich wirklich nicht oft so lächerlich.»
«Das kann jedem in einem solchen Fall passieren», tröstete ich sie. «Es kam eben alles zusammen. Die Aufregung, die Polizei, das ganze Durcheinander.»
Sie entgegnete langsam, mit veränderter Stimme: «Sie haben vollkommen Recht. Was geschehen ist, ist geschehen und nicht mehr zu ändern…» Dann schwieg sie einen Augenblick und sagte unvermittelt: «Sie war kein guter Mensch!»
Ich wollte darüber nicht streiten, ich hatte Verständnis dafür, dass Miss Johnson und Mrs Leidner einander nicht gerade geliebt hatten, und dachte sogar, dass sich Miss Johnson vielleicht im Geheimen über Mrs Leidners Tod freue und sich dieses Gefühles schäme. Laut sagte ich: «Jetzt schlafen Sie erst mal und grübeln nicht länger.»
Da noch ein paar Kleidungsstücke herumlagen, wollte ich rasch etwas Ordnung schaffen; dabei sah ich auf dem Boden eine kleine, zerknüllte Papierkugel liegen, die ihr aus einer Tasche gefallen war. Ich entfaltete und glättete es, als sie mich plötzlich anfuhr: «Geben Sie das her!»
Überrascht reichte ich es ihr, sie riss es mir förmlich aus der Hand und verbrannte es an der Kerzenflamme.
Ich war überrumpelt und starrte sie an. Das Papier hatte ich nicht betrachten können, bevor sie es mir entriss, doch während es verbrannte, sah ich zufällig ein paar mit Tinte geschriebene Worte.
Erst als ich zu Bett ging, kam mir auf einmal in den Sinn, dass ich diese Schrift schon einmal gesehen hatte: Es war dieselbe wie auf den anonymen Briefen!
Hatte Miss Johnson deshalb Gewissensbisse? War sie die Schreiberin dieser anonymen Briefe?
20
D er Gedanke war entsetzlich. Miss Johnson mit den Briefen in Verbindung zu bringen, wäre mir nie im Traume eingefallen. Mrs Mercado vielleicht, aber nie Miss Johnson, die eine wirkliche Dame war, feinfühlig, vernünftig.
Als ich jedoch an die Unterhaltung dachte, die Monsieur Poirot und Dr. Reilly am Abend miteinander geführt hatten, wurde ich stutzig. Wenn Miss Johnson die Briefe geschrieben hätte, würde sich manches klären. Natürlich dachte ich nicht eine Sekunde daran, dass Miss Johnson mit dem Mord etwas zu tun haben könnte, aber ihre Abneigung gegen Mrs Leidner hätte sie dazu verleiten können, ihrer Gegnerin eins auszuwischen.
Doch dann wurde Mrs Leidner ermordet, und Miss Johnson bekam fürchterliche Gewissensbisse – sowohl wegen ihres gemeinen Streiches als auch bei dem Gedanken, dass diese, Briefe dazu beitragen könnten, den Mörder zu schützen. Ihr Zusammenbruch war also kein Wunder. Bestimmt war sie im Grunde ihres Herzens ein anständiger Mensch, und darum hatte sie sich auch so eifrig an meine Worte geklammert: «Was geschehen ist, ist geschehen und kann nicht mehr geändert werden.» Und dann diese merkwürdige Äußerung – diese Rechtfertigung: «Sie war kein guter Mensch!»
Was sollte ich tun?
Ich zerbrach mir den Kopf. Nach einer Weile beschloss ich, es bei der ersten Gelegenheit Monsieur Poirot zu sagen.
Als er am nächsten Tag kam, war ich aber nur einen Moment mit ihm allein, und ehe ich ihn sprechen konnte, flüsterte er mir zu: «Ich werde jetzt mit Miss Johnson und auch mit den andern im Wohnzimmer sprechen. Haben Sie noch den Schlüssel von Mrs Leidners Zimmer?»
«Ja.»
« Très bien. Gehen Sie hinein, machen Sie die Tür hinter sich zu und schreien Sie, nicht übermäßig laut, stoßen Sie einfach einen Schrei aus. Er soll Überraschung ausdrücken, nicht Entsetzen. Und wenn man Sie hören sollte, sagen Sie, Sie wären gestolpert oder so was Ähnliches… das überlasse ich Ihnen.»
In diesem Augenblick kam Miss Johnson in den Hof, und wir konnten nicht weiterreden. Ich wusste genau, was er bezweckte. Sobald er und Miss Johnson im Wohnzimmer waren, ging ich in Mrs Leidners Zimmer und schloss die Tür hinter mir.
Ich kam mir ziemlich albern vor, allein in einem leeren Zimmer zu stehen und einen Schrei auszustoßen. Zudem wusste ich nicht, wie laut er sein sollte. So rief ich recht laut «Oh», dann noch einmal lauter, und schließlich etwas leiser.
Danach ging ich wieder in den Hof. Die Erklärung, die ich mir ausgedacht hatte, brauchte
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