Mord in Mesopotamien
Ich möchte Sie um nichts in der Welt von Ihren Pflichten abhalten.»
«Ich habe ein ganzes Krankenhaus voll, das ist wohl ein Wink mit dem Zaunpfahl.» Er stand auf und ging lachend hinaus.
«So ist es besser», erklärte Poirot, «jetzt haben wir ein interessantes Tête-à-tête. Aber Sie müssen auch etwas essen.» Er reichte mir eine Platte mit Sandwiches und goss mir eine zweite Tasse Tee ein. Er hatte wirklich gute Manieren. «Und nun möchte ich mehr von Ihren Eindrücken hören. Wer konnte Ihrer Meinung nach Mrs Leidner nicht leiden?»
Zögernd antwortete ich: «Es ist nur eine Vermutung von mir, und ich möchte nicht, dass es heißt, ich hätte das behauptet.»
«Natürlich nicht.»
«Also meiner Meinung nach hasste Mrs Mercado sie.»
«So? Und Mr Mercado?»
«Er schien etwas verliebt in sie zu sein. Ich glaube nicht, dass sich außer seiner Frau je eine Frau für ihn interessiert hat. Und Mrs Leidner hatte eine nette Art, sich für andere Leute interessiert zu zeigen, und das war, glaube ich, dem armen Mann zu Kopf gestiegen.»
«Und Mrs Mercado… sie war nicht begeistert davon?»
«Ganz offen gesagt: Sie war eifersüchtig.»
«So? Mrs Mercado war eifersüchtig und hasste Mrs Leidner?»
«Ich habe einen Blick von ihr mitgekriegt, als hätte sie sie am liebsten auf der Stelle umgebracht… ah, mein Gott», stotterte ich, «ich wollte natürlich nicht behaupten… ich meine… nicht einen Augenblick…»
«Ich verstehe, Ihnen ist das nur so herausgeschlüpft. Und ärgerte sich Mrs Leidner über Mrs Mercados Animosität?»
Nachdenklich antwortete ich: «Nein, das nicht, ich glaube, sie hat es nicht einmal bemerkt. Ich wollte ihr sogar einmal einen Wink geben, unterließ es dann aber.»
«Können Sie mir ein Beispiel anführen, wie Mrs Mercado ihre Gefühle zeigte?»
Ich berichtete ihm meine Unterhaltung mit ihr auf dem Dach.
«Und sie erwähnte Mrs Leidners erste Ehe», sagte Poirot stirnrunzelnd. «Können Sie sich erinnern, ob sie Sie dabei angesehen hat, um herauszufinden, ob Sie etwas anderes gehört hätten?»
«Sie meinen, sie könnte die Wahrheit gewusst haben?»
«Das wäre möglich. Sie könnte die anonymen Briefe geschrieben und die Hand am Fenster und all das andere inszeniert haben.»
«Diese Möglichkeit überlegte ich mir auch schon. Das wäre eine Rache, die ich ihr zutrauen würde.»
«Ja, zu solchen Gemeinheiten wäre sie fähig, aber sie ist nicht der Mensch, der kaltblütig einen Mord verübt, wenn nicht, natürlich … » Er hielt inne, überlegte und fuhr dann fort: «Es ist so merkwürdig, dass sie zu Ihnen gesagt hat: ‹ Ich weiß, warum Sie hier sind. › Was meinte sie damit?»
«Ich habe keine Ahnung.»
«Sie glaubte, Sie seien nicht nur als Krankenschwester im Haus. Aber als was sonst? Und warum interessierte sie sich so sehr für Sie? Und es ist auch merkwürdig, dass sie Sie am ersten Tag beim Tee so anstarrte.»
«Sie ist keine Dame», erwiderte ich ärgerlich.
«Das, ma súur, ist eine Feststellung, aber keine Erklärung.» Ich wusste nicht genau, was er damit meinte, doch er sprach gleich weiter: «Und die andern?»
Ich überlegte. «Ich glaube auch, dass Miss Johnson Mrs Leidner nicht ins Herz geschlossen hatte, aber sie zeigte das ganz offen und gab zu, dass sie voreingenommen war. Sie hängt sehr an Dr. Leidner, sie hat jahrelang mit ihm zusammengearbeitet. Durch seine Heirat wurde mit einem Schlag alles anders.»
«Und von Miss Johnsons Standpunkt aus war es keine passende Heirat. Es wäre viel passender gewesen, wenn Dr. Leidner sie geheiratet hätte.»
«Das wäre es auch», gab ich zu. «Aber von hundert Männern heiratet keiner die Richtige. Und man kann es Dr. Leidner nicht verübeln, denn die gute Miss Johnson ist nicht sehr ansehnlich, und Mrs Leidner war wirklich eine Schönheit… nicht mehr jung, aber…! Ich wünschte, Sie hätten sie gekannt. Sie hatte etwas Besonderes an sich… fast etwas Überirdisches.»
«Sie konnte die Menschen bezaubern… meinen Sie?»
«Ja. Aber ich hatte den Eindruck, dass sie und Mr Carey nicht gut miteinander auskamen», fuhr ich nachdenklich fort. «Ich glaube, er war ebenso eifersüchtig auf sie wie Miss Johnson. Er war immer sehr förmlich ihr gegenüber, und sie auch zu ihm. Sie war sehr höflich, sie reichte ihm beim Essen, was er brauchte, und nannte ihn förmlich ‹Mr Carey›. Er war ein alter Freund ihres Mannes, und meist lieben Frauen die alten Freunde ihrer Männer nicht. Sie können es
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