Mord in Mesopotamien
ich nicht abzugeben. Poirot und Miss Johnson waren im Wohnzimmer in ein Gespräch vertieft und hatten offensichtlich nichts gehört.
Also, das ist nun klar, dachte ich. Entweder hat sie sich geirrt und gar keinen Schrei gehört, oder er kam anderswoher. Da ich die beiden nicht stören wollte, machte ich es mir auf der Veranda in einem Liegestuhl bequem; ich konnte jedes Wort ihrer Unterhaltung verstehen.
«Die Situation ist schwierig», sagte Poirot, «offensichtlich liebte Dr. Leidner seine Frau sehr…»
«Er vergötterte sie», unterbrach ihn Miss Johnson.
«Er erklärte mir auch, dass alle Expeditionsmitglieder sie sehr verehrt hätten. Die Herrschaften können ihm ja nicht gut etwas anderes sagen. Es kann wahr sein, es kann aber ebenso gut nicht wahr sein. Nur bin ich überzeugt, dass zur Lösung des Rätsels die genaue Kenntnis von Mrs Leidners Charakter erforderlich ist. Wenn ich genau wüsste, was jedes Mitglied von ihr hält, könnte ich mir ein Bild von ihr machen. Deswegen bin ich heute hergekommen. Ich weiß, dass Dr. Leidner in Hassanieh ist, und so kann ich leichter mit jedem Einzelnen sprechen. Und dazu brauche ich Ihre Hilfe.»
«Bitte sehr», entgegnete Miss Johnson kurz.
«Seien Sie jetzt bitte nicht allzu englisch», bat Poirot. «Sagen Sie nicht, es sei nicht loyal, über Tote schlecht zu sprechen. Loyalität ist die Pest, wenn es sich um die Aufdeckung eines Verbrechens handelt, sie verschleiert immer wieder die Wahrheit.»
«Ich kann nicht behaupten, dass ich Mrs Leidner in mein Herz geschlossen hätte», erwiderte Miss Johnson trocken und mit einem bitteren Unterton. «Mit Dr. Leidner ist es etwas anderes, aber immerhin war sie seine Frau.»
«Das soll also heißen, dass Sie nichts gegen die Frau Ihres Chefs sagen wollen. Aber es handelt sich jetzt nicht um eine einfache Meinungsäußerung, sondern darum, einen schrecklichen, rätselhaften Mord aufzuklären. Wenn ich glauben müsste, dass die Tote ein gequälter Engel war, würde das meine Aufgabe nicht erleichtern.»
«Bestimmt würde ich sie nicht als Engel bezeichnen», erklärte Miss Johnson.
«Sagen Sie mir offen Ihre Meinung über Mrs Leidner – als Frau.»
«Hm. Zunächst mache ich Sie darauf aufmerksam, dass ich voreingenommen bin, Monsieur Poirot. Ich… wir alle würden für Dr. Leidner durchs Feuer gehen. Und als Mrs Leidner kam, waren wir alle eifersüchtig. Wir nahmen es ihr übel, dass sie seine Zeit und Aufmerksamkeit zu sehr in Anspruch nahm. Ich spreche ganz offen, Monsieur Poirot, obwohl es nicht angenehm für mich ist. Ich war voller Groll darüber, dass sie hier war, bemühte mich aber, es nie zu zeigen. Alles war für uns anders geworden.»
«Uns? Wieso uns?»
«Ich meine für Mr Carey und für mich. Wir gehörten zur alten Clique, und uns gefiel die ‹neue Ordnung› gar nicht. Das ist eigentlich verständlich, es mag allerdings etwas kleinlich von uns gewesen sein. Aber es hatte sich alles so verändert.»
«Wieso verändert?»
«In jeder Beziehung. Wir waren früher so vergnügt zusammen, hatten viel Spaß miteinander, und Dr. Leidner war so lustig – wie ein Junge.»
«Und als Mrs Leidner kam, änderte sich das?»
«Ich glaube nicht, dass es ihre Schuld war. Voriges Jahr war es gar nicht so schlimm. Und, bitte, glauben Sie mir, es handelt sich nicht um das, was sie tat. Sie war immer reizend zu mir, und das beschämte mich manchmal. Sie konnte nichts dafür, dass Kleinigkeiten, die sie sagte oder tat, mich gegen sie aufbrachten. Es konnte niemand netter sein, als sie es war.»
«Aber trotzdem hat sich in diesem Jahr alles geändert? Es herrschte eine andere Atmosphäre?»
«Es war ganz anders, obwohl ich nicht sagen kann, warum. Alles schien schief zu gehen – nicht mit der Arbeit –, ich meine mit uns. Wir waren alle übernervös, als wäre ständig ein Gewitter im Anzug.»
«Und diese Atmosphäre führen Sie auf Mrs Leidner zurück?»
«Bevor sie kam, war es nie so», antwortete Miss Johnson trocken. «Aber ich weiß, ich bin konservativ und möchte, dass alles immer so bleibt, wie es ist. Sie dürfen mich nicht zu ernst nehmen, Monsieur Poirot.»
«Wie würden Sie Mrs Leidners Charakter und Temperament beschreiben?»
Nach kurzem Schweigen sagte sie langsam: «Sie war launisch, war einen Tag nett zu jemand und sprach am nächsten überhaupt nicht mit ihm. Ich glaube, sie wäre an sich gutmütig und rücksichtsvoll gewesen, aber sie war zu verwöhnt. Sie nahm Dr. Leidners Liebe als etwas
Weitere Kostenlose Bücher