Mord in Mesopotamien
Ton.»
«Das wird Miss Johnson beruhigen», erklärte ich. «Sie macht sich Vorwürfe, dass sie, als sie den Schrei zu hören glaubte, nichts getan hat.»
Mrs Mercado saß am Geländer, den Kopf auf die Hände gestützt, und war so tief in Gedanken versunken, dass sie uns nicht hörte, bis Poirot vor ihr stand und ihr guten Morgen sagte.
Sie schrak zusammen und blickte auf. Ich fand, dass sie elend aussah, unter den Augen hatte sie tiefe, dunkle Schatten.
« Encore moi » , sagte Poirot. «Ich komme zu einem bestimmten Zweck.» Er erklärte ihr, genau wie Miss Johnson, wie wichtig es für ihn sei, ein genaues Bild von Mrs Leidner zu bekommen.
«Die liebe, liebe Louise! Es ist so schwer, sie jemandem zu beschreiben, der sie nicht gekannt hat. Sie war ein exotisches Geschöpf. Ganz anders als alle anderen Frauen, nicht wahr, Schwester? Ein wahres Nervenbündel natürlich, aber von ihr nahm man ja alles gern hin. Und sie war so reizend zu uns allen, nicht wahr, Schwester? Und dabei so bescheiden… ich meine, sie verstand gar nichts von Archäologie und bemühte sich so, etwas zu lernen. Immer fragte sie meinen Mann, wie man die Metallfunde chemisch behandeln müsse, und auch von Miss Johnson ließ sie sich belehren. Oh, wir liebten sie alle so sehr!»
«Dann stimmt es also nicht, Madame, dass eine gewisse Spannung… eine unangenehme Atmosphäre geherrscht hat?»
Mrs Mercado riss ihre verschleierten Augen auf: «Oh, wer hat das behauptet? Die Schwester? Dr. Leidner? Aber er hat ja nie etwas bemerkt, der arme Mann.» Sie warf mir einen ausgesprochen giftigen Blick zu.
«Ich habe meine Spione», erklärte Poirot freundlich lächelnd. Ich sah, wie ihre Lider zuckten.
«Glauben Sie nicht», fragte sie süß, «dass nach einem solchen Ereignis jedermann Dinge behauptet, die nicht stimmen? Sie verstehen… ‹Spannung›, ‹unheimliche Atmosphäre›, ‹das Gefühl, dass etwas in der Luft hängt›. Ich glaube, das redet man sich hinterher immer ein.»
«Das stimmt, Madame», pflichtete ihr Poirot bei.
«Und es war wirklich nicht wahr. Wir waren wie eine glückliche Familie.»
«Diese Frau ist die schlimmste Lügnerin, die ich je gesehen habe», erklärte ich empört, als Monsieur Poirot und ich außer Hörweite auf dem Weg zum Ausgrabungsplatz waren. «Ich bin sicher, dass sie Mrs Leidner gehasst hat.»
«Sie ist kaum der Mensch, von dem man die Wahrheit erwartet», stimmte er mir zu.
«Verschwendete Zeit», sagte ich scharf.
«Keineswegs… keineswegs. Wenn ein Mensch mit den Lippen lügt, sagen die Augen die Wahrheit. Wovor fürchtet sie sich, die kleine Madame Mercado? Ich sah Furcht in ihren Augen. Ja, ich bin sicher, dass sie sich vor etwas fürchtet. Das ist sehr interessant.»
«Ich muss Ihnen etwas Wichtiges mitteilen, Monsieur Poirot», unterbrach ich ihn und sagte ihm, dass ich den dringenden Verdacht hegte, Miss Johnson habe die anonymen Briefe geschrieben. «Sie lügt also auch… wie gelassen hat sie vorhin Ihre Fragen hinsichtlich der Briefe beantwortet.»
«Ja, es war interessant. Sie gab zu, dass sie über diese Briefe Bescheid wusste, dabei war bisher vor den anderen noch nie etwas davon erwähnt worden. Allerdings könnte Dr. Leidner gestern mit ihr darüber gesprochen haben, sie sind ja alte Freunde. Aber wenn er es nicht getan hat… dann ist es merkwürdig und interessant.»
Mein Respekt vor ihm wuchs. «Werden Sie sie darauf ansprechen?»
«Wo denken Sie hin!», wehrte Monsieur Poirot ab. «Man soll nie mit seinen Kenntnissen prahlen. Bis zur letzten Minute behalte ich alles hier…» Er tippte sich an die Stirn. «Und im – richtigen Moment springe ich wie ein Panther, und, mon Dieu! die Bestürzung!»
Ich musste im Stillen lachen bei der Vorstellung, Monsieur Poirot als Panther zu sehen. Wir waren nun am Ausgrabungsplatz angelangt und trafen als ersten Mr Reiter, der gerade einige Lehmmauern fotografierte. Als er fertig war, gab er die Kamera und die Platten einem Araberjungen und beauftragte ihn, sie ins Haus zu bringen.
Poirot stellte ihm einige Fragen über Entwicklungstechnik und Filme, die er anscheinend mit Vergnügen beantwortete. Dann ging Poirot zum Zweck seines Kommens über.
«Ja, ich verstehe, was Sie meinen», sagte Mr Reiter, «aber ich fürchte, dass ich Ihnen nicht viel helfen kann. Ich bin dieses Jahr das erste Mal hier und habe nur selten mit Mrs Leidner gesprochen. Es tut mir sehr Leid, aber ich kann Ihnen wirklich nichts sagen.»
Seiner Sprechweise nach
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