Mord in Mesopotamien
kein Selbstmord. Jemand muss das Glas mit dem Gift durch das Fenster auf meinen Nachttisch gestellt haben›.»
«Was meinen Sie, Leidner?», fragte der Hauptmann. «Halten Sie es für Selbstmord oder Mord?»
Nach kurzem Überlegen antwortete Dr. Leidner ruhig und entschieden: «Mord! Anne Johnson war kein Mensch, der Selbstmord verübt.»
«Nicht unter normalen Umständen», gab Maitland zu, «aber, es könnte Umstände geben, die es verständlich machten.»
«Und die wären?»
Hauptmann Maitland bückte sich, hob mit sichtlicher Anstrengung ein Bündel, das neben seinem Stuhl lag, hoch und legte es auf den Tisch.
«Davon hatte keiner von Ihnen eine Ahnung», erklärte er. «Wir haben es unter ihrem Bett gefunden.»
Er knotete die Schnur auf, zog das Tuch ab, und zum Vorschein kam ein großer, schwerer Mühlstein. An sich war daran nichts Besonderes, man hatte Dutzende davon ausgegraben; unsere Aufmerksamkeit erregte aber ein dunkler Fleck, an dem einige Haare klebten.
«Es ist Ihre Aufgabe, das zu untersuchen, Reilly», sagte Hauptmann Maitland. «Aber zweifellos ist dies das Instrument, mit dem Mrs Leidner ermordet wurde.»
26
E s war entsetzlich. Dr. Leidner sah aus, als würde er jeden Moment in Ohnmacht fallen, und auch mir war leicht übel. Dr. Reilly untersuchte den Mühlstein mit fachmännischem Interesse. «Keine Fingerabdrücke, vermute ich.» Er nahm eine Pinzette und untersuchte vorsichtig die Haare. «Hm… ein Stückchen Hautgewebe… und Haar… schönes blondes Haar. Das ist ein provisorischer Befund. Ich muss noch einen genauen Test machen, die Blutgruppe feststellen und so weiter, aber es scheint kein Zweifel zu bestehen. Und den Stein haben Sie unter Miss Johnsons Bett gefunden? Sie nehmen daher an, dass sie den Mord verübte, dann Gewissensbisse bekam und sich umbrachte? Es ist eine Hypothese… eine schöne Hypothese.»
Dr. Leidner schüttelte nur hilflos den Kopf. «Anne kann es nicht getan haben, das ist unmöglich», murmelte er.
«Ich kann nur nicht begreifen, wo sie dieses riesige Mordwerkzeug versteckt hatte», sagte Hauptmann Maitland, «denn nach dem ersten Mord ist doch jedes Zimmer durchsucht worden.»
Mir kam plötzlich etwas in den Sinn, und ich dachte: Im Materialienschrank, sagte aber nichts.
«Wo es auch war, vermutlich hatte sie das Versteck nicht mehr für sicher gehalten und den Stein in ihr Zimmer geholt, nachdem es durchsucht worden war. Oder vielleicht tat sie es erst, nachdem sie sich entschlossen hatte, Selbstmord zu verüben.»
«Ich glaube es nicht», erklärte ich laut.
Ich konnte es nicht fassen, dass die nette, freundliche Miss Johnson Mrs Leidner den Kopf zerschmettert haben sollte. Ich konnte es mir einfach nicht vorstellen. Und dennoch passte es zu manch anderem – zu ihrem Weinkrampf neulich abends zum Beispiel. Ich hatte zwar das Wort «Gewissensbisse» gebraucht, hatte aber nie vermutet, dass es Gewissensbisse wegen eines so ungeheuerlichen Mordes sein könnten. «Ich weiß nicht, was ich glauben solle», brummte Hauptmann Maitland. «Auch das Verschwinden des französischen Paters muss noch geklärt werden. Meine Leute suchen ihn überall, denn ich halte es für möglich, dass man ihm den Schädel eingeschlagen und seine Leiche in einen Bewässerungsgraben geworfen hat.»
«Oh, jetzt fällt mir etwas ein…», begann ich.
Alle blickten mich fragend an.
«Gestern Nachmittag hat er mich über den schielenden Mann, der damals in Mrs Leidners Fenster geschaut hatte, ausgefragt. Er wollte genau wissen, wo er gestanden habe, und sagte dann, er wolle sich draußen noch einmal umsehen; in Kriminalromanen hinterließen die Verbrecher immer aufschlussreiche Spuren.»
«Meine verdammten Verbrecher tun das leider nie», rief Hauptmann Maitland. «So, das wollte er also! Es würde mich interessieren, ob er etwas gefunden hat. Es wäre ja ein toller Zufall, wenn er und Miss Johnson gewissermaßen gleichzeitig etwas über den Mörder entdeckt haben sollten.» Dann fügte er ärgerlich hinzu: «Ein schielender Mann? Ein schielender Mann? Bei der Geschichte mit dem Schielauge ist etwas faul. Verdammt noch mal, ich weiß nicht, warum meine Leute den Kerl nicht schnappen können.»
«Wahrscheinlich, weil er nicht schielt», warf Poirot ruhig ein.
«Meinen Sie, dass er es nur vortäuschte? Ich wusste nicht, dass man das kann.»
«Schielen kann sehr nützlich sein», erwiderte Poirot.
«Verdammt noch mal! Ich gäbe etwas dafür, wenn ich wüsste, wo der
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