Mord in Mesopotamien
Taschenlampe, eilte hinaus und blieb lauschend vor meiner Tür stehen. Jetzt hörte ich den Laut wieder – er kam aus dem Zimmer neben mir, aus Miss Johnsons Zimmer.
Ich stürzte hinein. Miss Johnson lag im Bett und wand sich in grässlichen Schmerzen. Als ich mich über sie beugte, bewegte sie die Lippen und versuchte zu sprechen, brachte aber nur ein unverständliches Flüstern hervor, und ich sah, dass ihre Mundwinkel und die Haut am Kinn wund waren. Ihre Augen richteten sich von mir weg auf ein Glas, das auf dem Teppich lag; offensichtlich war es ihr aus der Hand gefallen. Ich hob es auf, und als ich mit einem Finger die Innenseite berührte, zog ich ihn mit einem Schrei des Entsetzens zurück. Dann untersuchte ich das Innere ihres Mundes. Es gab keinen Zweifel. Die Ärmste hatte eine ätzende Säure – vermutlich Oxalsäure oder Salzsäure – geschluckt.
Ich rannte hinaus und rief Dr. Leidner, der sofort die anderen weckte; wir bemühten uns mit allen Kräften, sie zu retten, aber ich hatte die ganze Zeit über das Gefühl, dass es vergebens sei. Wir flößten ihr erst eine Lösung kohlensaures Natron ein und dann Olivenöl, und danach gab ich ihr zur Linderung der Qualen eine Morphiumspritze.
David Emmott war sofort nach Hassanieh gefahren und hatte Dr. Reilly geholt, doch als dieser kam, war es zu spät. Sie war bereits gestorben.
Ich will mich nicht in Einzelheiten ergehen. Vergiftung durch Salzsäure – Dr. Reilly stellte fest, dass sie von dieser Säure geschluckt hatte – ist eine der qualvollsten Todesarten. Als ich ihr die Spritze gab, machte sie einen letzten Versuch zu sprechen, und wieder brachte sie nur ein ersticktes Flüstern zustande. « Das Fenster… » , stieß sie hervor, « Schwester… das Fenster… »
Mehr vermochte sie nicht mehr zu sagen.
Diese Nacht werde ich in meinem ganzen Leben nicht vergessen. Erst traf Dr. Reilly ein, dann Hercule Poirot.
Er führte mich zart am Arm ins Esszimmer, wo er mich in einen Sessel drückte und mir eine Tasse guten, starken Tee gab.
«So, mon enfant » , sagte er. «Jetzt geht es schon besser. Sie sind ja völlig erschöpft.»
Nun brach ich in Tränen aus. «Es ist zu grauenhaft», schluchzte ich, «es war wie ein Alptraum. Die Qualen, die sie ausstand… und ihre Augen… oh, Monsieur Poirot… ihre Augen…»
Er klopfte mir beruhigend auf die Schulter, keine Frau hätte mitfühlender und tröstlicher sein können. «Ja, ja… denken Sie nicht mehr daran. Sie haben getan, was Sie konnten.»
«Es war eine Ätzsäure.»
«Es war eine starke Salzsäurelösung», präzisierte er.
«Die man zum Reinigen der Töpfe benutzt?»
«Ja, Miss Johnson trank wahrscheinlich das Gift, als sie nicht ganz wach war. Das heißt… wenn sie es nicht bewusst nahm.»
«Oh, Monsieur, was für ein entsetzlicher Gedanke!»
«Es ist immerhin möglich. Was meinen Sie?»
«Ich glaube es nicht, nein, das kann ich nicht glauben», rief ich kopfschüttelnd. Dann fügte ich nach kurzem Zögern hinzu: «Ich glaube, sie hat gestern Nachmittag etwas entdeckt.»
«Was sagen Sie? Sie hat etwas entdeckt?»
Ich berichtete ihm die merkwürdige Unterhaltung, die wir auf dem Dach miteinander gehabt hatten.
Poirot stieß einen leisen Pfiff aus und sagte: « La pauvre femme! Sie sagte, sie wolle es sich noch einmal durch den Kopf gehen lassen? Das hat ihren Tod besiegelt. Wenn sie es nur gleich gesagt hätte! Wiederholen Sie mir noch einmal genau ihre Worte.»
Ich tat es.
«Hm… sie hatte also festgestellt, dass man von draußen unbemerkt in den Hof gelangen kann? Kommen Sie bitte mit mir aufs Dach, Schwester, und zeigen Sie mir genau, wo sie gestanden hat.»
Wir gingen hinauf, und ich zeigte es ihm.
«Hier?» fragte er. «Also was sieht man von hier? Die Hälfte des Hofes… den Torbogen… die Türen des Zeichensaales, des Fotoateliers und des Laboratoriums. War jemand im Hof?»
«Pater Lavigny ging gerade zum Torbogen, und Mr Reiter stand in der Tür des Ateliers.»
«Aber ich sehe nicht, wie jemand von draußen hereinkommen könnte, ohne bemerkt zu werden… aber sie sah…» Schließlich gab er es kopfschüttelnd auf. « Sacré nom d’un chien… va! Was hat sie nur gesehen?»
Eben ging die Sonne auf. Der Horizont war im Osten in ein Farbenmeer von Rosa, Orange und Perlgrau getaucht.
«Welch herrlicher Sonnenaufgang», sagte Poirot bewundernd. Es war unwahrscheinlich schön.
Plötzlich stieß er einen tiefen Seufzer aus. «Was für ein Idiot ich war»,
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