Mord in Oxford
und alles erzählen müssen, aber Kate war dazu nicht in der Lage. Zumindest jetzt noch nicht. Plötzlich wusste sie, was Camilla sie die ganze Zeit hatte fragen wollen, und sie antwortete, ohne dass die Frage gestellt worden war.
»Ja«, sagte sie sanft, »ich helfe dir.«
Vor vielen Jahren, als sie zehn Jahre alt gewesen waren, hatte sie selbst Hilfe gebraucht, und Camilla hatte sie ihr gegeben. Jetzt war die Zeit gekommen, ihre Schuld abzutragen.
»Langsam wird mir kalt«, sagte Kate. »Sollen wir noch ein Stück laufen?«
Sie verließen die nassen Straßen der Nordstadt, wo Bürgersteige und Straßen mit abgebrochenen Zweigen übersät und die ersten Frühlingsblumen vom Sturm zu Boden gedrückt worden waren. Die Gärten sahen zum Erbarmen aus.
Die Freundinnen joggten im Eiltempo durch die Innenstadt und verlangsamten ihren Lauf erst wieder, als sie Fridesley erreichten. Die Sturmschäden hier hatten typischen Vorstadtcharakter. Kates Laufschuhe und die Trainingshose waren völlig durchweicht. Die Matschspritzer reichten bis zu den Knien.
»Weißt du, was ich mir gerade überlegt habe?«, fragte Kate plötzlich. »So viel Zufall, dass für ein und dieselbe Nacht zwei Verbrechen ausgetüftelt werden, gibt es gar nicht. Es muss einer von uns gewesen sein. Er oder sie hat meinen Plan benutzt, nur ging es in diesem Fall nicht um Roses Dosen, sondern darum, Yvonne zu ermorden.«
»Wahrscheinlich hast du Recht, aber darüber möchte ich gar nicht erst nachdenken.«
»Zumindest ist das die wahrscheinlichste Lösung. Wir kannten Yvonne, warum sollten wir nicht auch ihren Mörder kennen? Erinnerst du dich noch an die Szene in Roses Küche? Als wir uns entschlossen haben, die Dosen aus Theos Haus zu holen? Da lagen eine Menge unausgesprochener Dinge in der Luft. Wir sollten unbedingt die Polizei informieren.«
»Auf keinen Fall. Es geht nicht. Ich kann einfach nicht. Frag mich bitte nicht, warum. Könntest du nicht herausfinden, wer es getan hat, Kate? Du kennst doch die Leute, die dort waren. Du kannst es bestimmt viel besser als die Polizei.«
»Unfug, Camilla. Das ist kein Fall für einen Amateur; die Sache müssen wir schon den Profis überlassen.« Aber noch während sie sprach, wurde ihr bewusst, dass sie einem Polizisten niemals die unausgesprochenen Drohungen jenes Tages in Roses Küche würde erklären können.
»Du hast gesagt, du hilfst mir.«
Sie standen in der vom Sturm zerzausten Vorstadtstraße und sahen sich in die Augen.
»Ja, das habe ich gesagt.«
»Denk wenigstens einmal darüber nach. Vielleicht kommt dir ja eine gute Idee. Und versprich mir bitte, dass du niemandem von meinem Besuch bei Yvonne erzählst.«
»Na gut«, sagte Kate widerstrebend. »Zumindest eine Zeit lang. Weil wir Freundinnen sind. Und weil ich nicht vergessen habe, was du für mich getan hast. Ich gebe dir und mir vierundzwanzig Stunden. In dieser Zeit denke ich über alles nach, was passiert ist. Vielleicht fällt mir ja etwas ein. Aber mehr kann ich dir wirklich nicht versprechen.« Außerdem: Was sollte sie tun, falls sie wirklich herausfand, wer der Mörder war?
Zum zweiten Mal an diesem Tag zeigte Camilla ihre Gefühle. Mitten auf der Straße fiel sie Kate um den Hals.
»Falls ich mit meiner Vermutung Recht habe und es war wirklich einer von uns«, sagte Kate nachdenklich, »dann wird sicher bald jemand anrufen und unbedingt wollen, dass wir die Polizei außen vor halten.«
9. KAPITEL
C
amilla Rogers war ein stilles, pummeliges Kind gewesen, als Kate sie kennen lernte. Den anderen Mädchen in der Klasse hingen die Haare oft wild ins Gesicht; nur Camilla hatte brave, ordentliche, mit blauen Bändern geschmückte Zöpfe. Als sie alle anfingen, Miniröcke zu tragen, waren Camillas Röcke immer viel zu lang, bis sich die Mode änderte; Camillas Röcke endeten nach wie vor ein Stückchen unterhalb des Knies, während die anderen Mädchen sich bis zu den Knöcheln verhüllten. Heute wusste Kate, dass Camilla ein Überraschungskind gewesen war. Ihre Eltern hatten erst deutlich jenseits der Vierzig geheiratet und gar nicht mehr damit gerechnet, noch ein Kind bekommen zu können. Damals hatte Kate Mitleid mit Camilla gehabt, die so offenkundig nicht in die Welt der anderen Mädchen passte. Obwohl sie ungefähr ein Jahr jünger war, freundete sie sich mit Camilla an, zeigte ihr, wie schön das Leben sein konnte, und nannte sie Millie.
Dann erkrankte Kates Vater an Krebs. Monatelang sagten die Eltern ihr nichts von der
Weitere Kostenlose Bücher