Mord in Thingvellir
verfolge mit dem Blick den Fluss bis zu dem kleinen See mit dem tiefen Pfuhl, wo ich immer so gerne geplantscht und gespielt habe und geschwommen bin. Früher.
Das gleichförmige Rauschen des Wasserfalls dringt ins Zimmer, obwohl das Fenster geschlossen ist.
Dieses uralte Wiegenlied der Natur hat mir oft geholfen, abends einzuschlafen. Das ist lange her. Aber jetzt hält mich der Wasserfall wach.
Ich bin wieder auf dem Weg ins Bett, als ein lauter, angsterfüllter Schrei die Stille der Nacht zerreißt und mir durch Mark und Bein geht.
Der Laut kommt aus dem Nebenzimmer.
Magnea kommt den dunklen Flur entlang gelaufen und erreicht das kleine Schlafzimmer kurz vor mir.
Meine alte Festung.
Elín Edda sitzt hellwach im Bett. Ihre großen Augen glänzen im Mondschein. Sie ist vor Angst völlig verschreckt.
»Ich habe es wieder gesehen!«, ruft sie. »Ich habe es wieder gesehen!«
Magnea knipst das Deckenlicht an. Setzt sich auf die Bettkante.
»Ist schon gut«, sagt sie und umarmt Elín Edda. »So, mein Herz, es ist wieder vorbei.«
»Aber ich habe es wieder gesehen!«
»Was hast du gesehen?«, frage ich.
»Ich habe gesehen, wie er sie ertränkt hat!«, ruft Elín Edda.
»Du hast nur einen schlimmen Albtraum gehabt«, tröstet Magnea.
»Doch, ich habe es wirklich gesehen!«
Elín Edda stehen Tränen in den Augen.
»Es war genauso grausam wie neulich«, fügt sie hinzu.
Magnea beruhigt ihre Tochter mit besänftigenden Worten.
Schließlich legt sich das Mädchen wieder auf sein Kissen und hält mit beiden Händen den Seidenschal fest. Den weißrot-blauen, den es im Keller gefunden hat.
Ich lasse Mutter und Tochter in meinem alten Kinderzimmer allein. Obwohl es schon mitten in der Nacht ist, kann ich nicht wieder einschlafen.
Schließlich angle ich nach meiner rotbraunen Aktentasche. Nehme die Flasche heraus, genehmige mir einen tiefen Schluck Jackie Daniels. Direkt vom Hals.
Manchmal ist er das beste Schlafmittel der Welt.
Magnea klopft an und öffnet die Tür.
»Es tut mir leid, dass sie dich mitten in der Nacht geweckt hat«, sagt sie.
»Mach dir keine Sorgen. Ich war sowieso wach.«
»Elín Edda hat oft ganz furchtbare Albträume«, fährt Magnea fort. »Sie ist so empfindlich, und außerdem kann sie offenbar mehr sehen als andere.«
»Wie meinst du das?«
»Meine Familie hat die Gabe, hellsehen zu können. Meine Mutter konnte hellsehen, als sie ein Teenager war, und Elín Edda scheint ihre Gabe geerbt zu haben.«
»Und du selber?«
»Ich bin Gott sei Dank verschont geblieben. Für ein Kind kann es eine große Last sein, etwas zu sehen, was andere nicht wahrnehmen.«
Ich kann es mir nicht verkneifen zu fragen:
»Wie kamst du denn auf die Idee, das Mädchen mit diesen Hirngespinsten in die Zeitungen zu lassen?«
»Ich finde, es ist eine Katastrophe, wie diese Journalisten sich aufführen«, antwortet Magnea und spricht lauter. »Irgendeine Journalistin war hier im Osten unterwegs und hat gehört, wie die Leute sich darüber unterhalten haben, was Elín Edda in der einen Nacht gesehen hat. Sie hat ein bisschen mit ihr auf dem Vorplatz geredet, aber ich wusste nichts davon. Erst als die Zeitung schon längst erschienen war, wurde ich angerufen und darüber informiert. Ich war wirklich geschockt.«
»Und Elín Edda?«
»Ich glaube, sie war sogar stolz darauf, ihren Namen in der Zeitung zu lesen, aber mehr will sie dazu nicht sagen. Ich war ihr gegenüber bestimmt recht unwirsch, als ich die Zeitung gesehen habe.«
»Ist das nicht einfach nur Einbildung?«
»Nein, das glaube ich nicht, leider«, antwortet Magnea. Und wünscht gute Nacht.
Natürlich glaube ich nicht im Traum daran, dass die Erscheinungen von Elín Edda etwas anderes sind als ein schrecklicher Alptraum. Das Mädchen hat eindeutig eine lebhafte Phantasie. Sie hat sich auch den Bericht im Fernsehen über den Leichenfund im Ertränkungspfuhl mit ungewöhnlich großem Interesse und blühender Vorstellungsgabe angesehen. Mit Sicherheit nicht zum ersten Mal.
Ursache und Wirkung.
Der Zusammenhang ist offensichtlich. Logisch. Simpel.
21
Samstag, 4. September
Der Kerl liegt jetzt zwei Meter tiefer. Aber der Trauerkaffee ist noch nicht zu Ende. Im Speisesaal des Sommerhotels von Klettur.
Mir fiel nicht im Entfernstesten ein, zum Anlass des Tages Schwarz zu tragen. Stattdessen zog ich mein schneeweißes Lederkostüm an. Und meine weißen, spitzen Hexenschuhe.
Diejenigen, die bei der Beerdigung dabei waren, haben dann etwas,
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