Mord in Wien: Wahre Kriminalfälle (German Edition)
durchführen, da die Leiche schon freigegeben und verbrannt worden ist. Bei einer Besprechung mit Polizeirat Dr. Heger erfährt der Sachverständige, dass man doch Blut in der Badewanne gefunden hat – eingetrocknetes Blut. Dieser Umstand aber ist in den Unterlagen nicht vermerkt. Breitenecker schließt daraus, dass die Tote mindestens eine Stunde lang in der trockenen Wanne gelegen ist, bevor der Mörder den Wasserhahn aufdrehte. Dann hat das klare, kalte, aus dem Hochgebirge kommende Wiener Leitungswasser das geronnene Blut gefrieren lassen.
Diesen wichtigen Hinweis dürfte Schwarzacher übersehen haben, denn als erfahrener Gerichtsmediziner hätte er bestimmt berücksichtigt, dass die Waschhautbildung bei Wasserleichen temperaturabhängig ist. Breitenecker interpretiert die Fakten nun folgerichtig: Im eiskalten, beständig fließenden Wasser quellen Handflächen und Fußsohlen viel langsamer, ergo musste der Tod Blanche Mandlers wesentlich früher eingetreten sein.
Fortan wird die „Spinatrechnung“ zum geflügelten Wort unter den Kriminalisten: Am Samstagvormittag hat Frau Mandler das Gemüse gekauft und zubereitet. Zwei Portionen musste sie noch am selben Tag verspeist haben – zum Mittag- und zum Abendessen. Am Sonntag folgten abermals zwei Spinat-Mahlzeiten, und am Montag brachte die Fabrikantin, wie Zeugen bestätigen, das Reindl ins Büro mit, um ihren Spinat dort zu verzehren. Mit dem beklecksten Topf in der Tasche verließ sie nach dem Mittagessen die Firma und ging in ihre Wohnung. Blanche Mandler erwartete Besuch: „Der große Unbekannte“ sollte kommen. Und falls dieser Mann sie irgendwann später noch in ein Restaurant eingeladen hätte, wäre sie mit Sicherheit nicht auf die Idee gekommen, schon wieder Spinat zu bestellen.
Dieser Rechnung und ihrem Mageninhalt zufolge musste Blanche Mandler bereits am frühen Montagnachmittag ermordet worden sein. Ein besseres Resultat hätte Julius Kausel sich nicht wünschen können, denn für den Montagnachmittag kann er mit einem hieb- und stichfesten Alibi aufwarten: Er ist in der Fabrik gewesen.
Ein falscher Schweizer
Aus der Haft entlassen wird Kausel trotzdem nicht. Die Justizbehörden halten „den großen Unbekannten“ für das Hirngespinst eines in die Enge getriebenen Verbrechers, der dem Untersuchungsrichter wie der Mordkommission immer wieder neue Lügen auftischt.
Aber Polizeirat Heger gibt nicht auf. Er hat brauchbare Hinweise für das Erscheinen eines mysteriösen Fremden gesammelt: Zeugenaussagen zufolge war am Sonntag vor dem Mord ein unbekannter Mann in Blanche Mandlers Wohnung verschwunden und hatte am Montagmorgen in Begleitung der Frau das Haus verlassen. Außerdem finden sich nun doch Indizien für einen Raubmord: Eine Aktentasche, der Schlüssel zu einem Safe und ein teurer Fotoapparat – eine Leica – fehlen.
So richtig stutzig macht Dr. Heger ein in der Wohnung sichergestelltes Telegramm: „Wegen Verhinderung komme ich erst Freitagabend zu Ihnen. Dr. Bossarth.“ Die Kurznachricht ist am Morgen des 7. November in einem Wiener Postamt aufgegeben worden – an jenem Montag, an dem Blanche Mandler zum letzten Mal lebend gesehen wurde. Auch ein handgeschriebener Brief erregt die Aufmerksamkeit des Mordspezialisten. Er stammt ebenfalls von „Dr. Bossarth“, der Frau Mandler Grüße von ihren in der Schweiz lebenden Verwandten ausrichtet.
Wer ist dieser „Dr. Bossarth“? Ein Schweizer möglicherweise. Keiner in der Fabrik kennt ihn, keiner hat ihn je gesehen. Nur ein Werkmeister sagt, als man mit den Zeugenvernehmungen wieder von vorne anfängt, sein Schwiegersohn habe Dr. Bossarth einmal getroffen. Also wird der Mann, ein gewisser Rudolf Lutz, Bauingenieur, 49 Jahre alt, wohnhaft in Kematen in Tirol, ins Wiener Sicherheitsbüro bestellt. Lutz reagiert ungehalten und erklärt in herablassendem Ton: „Selbstverständlich gibt es Dr. Bossarth! Ich habe ihn im D-Zug Innsbruck–Wien kennengelernt. Er hat mir erzählt, dass er dringend nach Wien muss, um mit Frau Mandler ein Kompensationsgeschäft abzuwickeln.“
Das war erstmals ein konkreter Anhaltspunkt. Polizeirat Heger fragt im Außenministerium nach, aber für einen Dr. Bossarth wurde kein Visum ausgestellt. Daraufhin müssen alle in Österreich lebenden Männer mit ähnlich lautendem Nachnamen ein Alibi erbringen. Sogar die eidgenössische Polizei fahndet nach Dr. Bossarth – ergebnislos. „Diesen Dr. Bossarth gibt es nicht“, ist Heger überzeugt. „Wir müssen uns
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